Wells, ich will dich nicht töten
Polizei nicht in die Quere kam. Hatte Officer Jensen uns wirklich geglaubt? Hatte er uns ernst genommen?
Das alles wurde hinfällig, wenn der Handlanger nichts über Astrups Verhaftung erfuhr und ihn nicht als nächstes Opfer auswählte. Ich fuhr in die Stadt zurück und benutzte einen Münzfernsprecher, um der Zeitung anonym einen Hinweis zu geben. Am Montagabend lief es in den Nachrichten, und am Dienstag wussten es alle in der Stadt. Der Köder war ausgelegt. Nun brauchte ich nur noch eine Waffe. Zuerst hatte ich darüber nachgedacht, sie bei Marci zu stehlen, weil Officer Jensen mehrere Waffen besaß, doch diesen Plan verwarf ich sofort wieder. Ich war nicht so dumm, einem Cop eine Waffe zu stehlen. Bei Max dagegen war das eine ganz andere Sache. Sein Dad hatte eine große Waffensammlung besessen, und seit er tot war, hatte niemand mehr Interesse daran. Man würde nicht einmal bemerken, dass eine Pistole fehlte.
Am Mittwochmorgen war ich entschlossen, Max zu besuchen und eine Waffe zu stehlen. Beim Frühstück schaltete ich die Nachrichten ein, und was ich hörte, traf mich wie ein Fausthieb in den Magen. Der Killer hatte früher zugeschlagen. William Astrup war nichts passiert, dafür war Sheriff Meier tot. Hände und Zunge fehlten, der Leichnam war mit zwei langen Pfählen, die sich wie Flügel erhoben, ins Gras genagelt worden.
DREIZEHN
»Halt still«, murrte Mom, während sie an meiner Fliege herumnestelte. »Ohne dein ständiges Gezappel ginge es viel leichter.«
»Wie leicht ginge es erst, wenn du einfach damit aufhören würdest.« Zum fünften Mal wandte ich mich weg. »Das sieht doch gut aus.«
»Die Fliege sitzt schief«, beharrte sie. »Verflixt noch mal, gib mir zwanzig Sekunden, damit ich sie ordentlich anbringe und ein Foto machen kann. Danach kann sie wieder so verrutschen, wie es dir gefällt.«
Ich marschierte durch den Flur zum Kühlschrank, wo Mom mein Anstecksträußchen untergebracht hatte. »Ich will kein Foto.«
»Aber wir müssen unbedingt eins machen!« Sie verfolgte mich durchs ganze Haus. »Das ist der erste Ball meines Kleinen!« Ich funkelte sie an. »Der erste Ball dieses hübschen jungen Mannes, wollte ich sagen! Ich brauche unbedingt ein Erinnerungsfoto von dir.«
»Das du dir sowieso nie ansehen wirst, bis du versehentlich den Speicherchip löschst.«
»Das ist mir nur ein einziges Mal passiert«, antwortete sie ernst. »Außerdem möchte ich es allen zeigen.«
»Allen? Wen meinst du mit allen? Allen Freunden, die wir nicht haben? Den Angehörigen, die nicht da sind? Lauren hat vor einer Stunde Feierabend gemacht und ist nicht einmal hochgekommen, Margaret war erst gar nicht hier. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihnen so ein Foto wichtig ist. Und falls Dad jemals Lust hat, mich vor meinem ersten Ball zu sehen, dann hat er diese Möglichkeit schon vor Jahren verspielt.« Es klopfte, und das war die ideale Gelegenheit, das betroffene Gesicht meiner Mutter hinter mir zu lassen. »Das ist sicher die Mitfahrgelegenheit.«
Ich öffnete, und tatsächlich stand Rachels Tanzpartner Brad Nielsen auf dem Treppenabsatz. »Oh, gut«, sagte er. »Ich war nicht sicher, ob ich die richtige Tür erwischt habe. Ich hatte schon Angst, ich stoße auf einen Haufen Leichen.«
»Die Leichenhalle ist unten, aber im Augenblick ist kein Kunde da«, beruhigte ich ihn.
»Gut zu wissen.« Er winkte Mom höflich zu. »Hallo, Mrs Cleaver, wie geht’s?«
Wie kann man in dieser Stadt leben und nicht wissen, ob unlängst jemand gestorben ist oder nicht?, dachte ich. Das ist doch das einzig Interessante, das hier überhaupt passiert.
»Hallo, Bradley.« Mom hatte nach meinem Ausbruch die Fassung zurückgewonnen und hob die Kamera. »Stellt euch mal nebeneinander.«
»Nein, Mom«, widersprach ich. »Kein Foto.«
»Aber jetzt ist dein Freund doch da.« Sie winkte. »Lächeln!«
»Ich will kein Foto« – der Blitz löste aus – »mit einem anderen Typ. Schön, Mom, vielen Dank. Schick das Bild doch Dad und sag ihm, wir sind jetzt fest zusammen.«
»Klasse!«, meinte Brad. »Aber keine Sorge, Mann. Die machen auch beim Ball noch Fotos, und davon können wir sicher welche bekommen. Wie ist dein Dad denn so?«
»Einfach super«, antwortete ich. »Im Moment ist er mein Lieblingselterntier.« Ich schob ihn auf den Treppenabsatz hinaus und schloss die Tür hinter mir, dann gingen wir die Treppe hinunter und verließen das Haus durch den Nebenausgang. Es war die letzte Septemberwoche,
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