Wells, ich will dich nicht töten
Ich schwieg, und sie ging.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte Mom. »Du wirkst betroffen, und so reagierst du sonst nicht, wenn jemand stirbt. Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Ich rege mich nicht auf, weil sie tot ist, sondern weil ich nichts dagegen tun konnte.« Ich stand auf und brachte meine Müslischale zur Spüle. Die Reste kippte ich ins Becken und spülte kräftig nach. Dann blieb ich, die nasse Schale in der Hand, einen Moment lang stehen, schließlich setzte ich sie behutsam auf die Spüle, legte den Löffel daneben und starrte ihn an. Eine weitere kleine Korrektur, und er lag genau parallel zur Schale. Es war ein perfektes Gedeck wie aus einem Werbefoto.
»John?«
»Das passt nicht«, sagte ich, während ich den Löffel näher zur Schale schob.
»Der Löffel?«
»Der Selbstmord. Es passt nicht. Da … da stimmt etwas nicht.«
»Was denn?«
»Sehe ich so aus, als wüsste ich es?« Wieder veränderte ich die Lage des Löffels um eine Winzigkeit. Dabei starrte ich jedoch durch ihn hindurch ins Leere. »Es ist zu perfekt.«
»Seit wann ist ein Selbstmord perfekt?«
»Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten«, erklärte ich. »Genau wie Allison Hill und Jenny Zeller. Warum?«
»Weil das eine verbreitete Methode des Selbstmords ist«, antwortete Mom. »Und es heißt noch lange nicht, dass da eine Verbindung besteht.«
Ruckartig hob ich den Kopf. »Aber trotzdem gibt es eine Verbindung, oder?«
»Das habe ich nicht behauptet.«
»Du weißt genau, dass es so ist. Wir alle wissen es, wir haben es uns nur noch nicht eingestanden. Zu viele Selbstmorde, die einander viel zu ähnlich sind.« Wütend knallte ich die flache Hand auf die Anrichte. »Verdammt! Da passiert direkt vor unseren Augen eine Mordserie, und wir denken uns nichts dabei.«
»Es sind Selbstmorde, John. Die Mädchen haben sich selbst umgebracht.«
»Nein, das stimmt nicht«, widersprach ich. Auf einmal war ich ganz wach und durchdachte blitzschnell verschiedene Möglichkeiten. Es war so offensichtlich. »Wir sollen glauben, sie hätten sich selbst umgebracht, aber das trifft nicht zu. Der Handlanger ist nicht der einzige Killer in der Stadt.«
»Glaubst du, die Polizei hat nicht schon alles berücksichtigt?«, fragte Mom. »Wenn es einen Hinweis auf Mord gibt, dann geht die Polizei der Sache garantiert nach.«
»Es gibt keine Hinweise.« Ich ging auf sie zu. »Wenigstens keine, mit denen die Polizei etwas anfangen könnte. Es ist ein Dämon.«
Schweigend starrte sie mich an. Mein Herz raste, während ich zwischen Furcht und Erregung hin und her schwankte. Das war die Erklärung! Gestern Abend beim Ball wusste ich schon, dass es einen zweiten Killer geben musste, dass es nicht der Handlanger gewesen sein konnte, und jetzt wurde klar, dass er schon die ganze Zeit vor meinen Augen seine Opfer ausgewählt hatte.
»Tu nicht so, als ob du es nicht siehst …«, forderte ich sie heraus, doch sie unterbrach mich.
»Ich sehe es«, gab sie zu. Ihr Gesicht war bleich. »Ich will es nicht sehen, aber ich sehe es. Es ist wie eine Illusion. Du starrst und starrst, und nachdem du es endlich erkannt hast, kannst du nie mehr so tun, als hättest du es nicht gesehen.«
»Wir sind die Einzigen, die es aufhalten können«, sagte ich. »Wir sind die Einzigen, die genug wissen, um etwas zu unternehmen.« Ich lief in den Flur hinaus. »Ich muss mich anziehen und zu Marci fahren.«
»Warte!«, rief Mom. »Darüber musst du reden!«
»Das will ich doch gerade tun.«
»Nein«, sagte sie. »Ich meine dich und mich, und zwar hier.« Mom folgte mir in den Flur. »Zieh Marci nicht mit hinein! Ich versuche dir zu helfen, und ich … ich bin für dich da.«
»Ja«, sagte ich. »Ich weiß.« Ich ging in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir.
»Marci, John ist da.«
Ich stand im Hausflur bei den Jensens, und Marcis Mom klopfte an die Zimmertür. Déjà vu. Marci antwortete nicht, und ihre Mom klopfte noch einmal.
»Marci, bist du da?«
»Ich will niemanden sehen«, sagte Marci leise. Ihre Stimme klang gebrochen und schwach.
»Nicht einmal John?«
»Niemanden.« Ihre Mutter blickte mich hilflos an.
»Tut mir leid, John. Das geht schon den ganzen Morgen so. Keine Sorge, sie kommt sicher bald heraus. Willst du ein Stück Brot?«
»Nein danke.« Ich gab mir Mühe, kein Gesicht zu ziehen. »Sagen Sie ihr doch einfach …« Ich wollte unbedingt mit Marci über die Killer sprechen. Es sind zwei !, hätte ich am liebsten gerufen. Es waren die
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