Welt im Fels
sie würden wenigstens diese Nacht auf ihren eigenen Matten schlafen. Die Dorfbewohner von Quilapa dagegen schleppten Strohbündel heran und steckten Fackeln an. Die Babys wurden zwar gestillt, aber sonst aß niemand.
Die prasselnden Fackeln erhellten die Dunkelheit, und einige Leute legten ihren Kopf auf die Knie und dösten. Die meisten saßen nur da, beobachteten den Tempel und warteten. Die Stimmen der betenden Priester klangen zu ihnen herunter, und das ununterbrochene Dröhnen der Trommeln erschütterte die Luft.
Citlallatonacs Zustand besserte sich in dieser Nacht nicht, aber er verschlechterte sich auch nicht. Er würde leben und die Morgengebete sprechen, und dann, während des kommenden Tages, würden die Priester in feierlicher Versammlung einen neuen Oberpriester wählen und die Rituale abhalten, die ihn in sein Amt einführten. Alles würde wieder in Ordnung sein. Es mußte alles in Ordnung sein.
Es gab Bewegung unter den Zuschauern, als der Morgenstern aufging. Das war der Planet, der die Dämmerung ankündigte und den Priestern das Signal gab, noch einmal Huitzilopochtli, den Kolibri-Zauberer, um Hilfe anzuflehen. Er war der einzige, der die Macht der Dunkelheit erfolgreich bekämpfen konnte und seit der Erschaffung der Azteken über sie gewacht hatte. Jede Nacht riefen sie ihn in Gebeten an, und er trat mit seinen Donnerkeilen den Kampf gegen die Nacht und die Sterne an und schlug sie aus dem Felde.
Huitzilopochtli war seinem Volk immer zu Hilfe gekommen, aber er mußte durch Opfer und die richtigen Gebete gnädig gestimmt werden. War die Sonne nicht jeden Tag aufgegangen, um es zu beweisen? Die richtigen Gebete, das war wichtig.
Nur der Oberpriester konnte diese Gebete sprechen.
Der Gedanke war unaussprechlich, doch die ganze Nacht lastete er schwer auf ihnen. Die Furcht lag immer noch in der Luft, als Priester mit qualmenden Fackeln aus dem Tempel traten, um dem Oberpriester den Weg zu leuchten. Er kam langsam heraus, halb getragen von zwei der jüngeren Priester. Er ging unbeholfen auf seinem linken Bein und zog das rechte kraftlos hinterher. Sie führten ihn zum Altar und hielten ihn aufrecht, während die Opfer dargebracht wurden. Drei Truthähne und ein Hund wurden diesmal geopfert, weil viel Hilfe gebraucht wurde. Die Herzen wurden aus den Körpern der Tiere gerissen und in Citlallatonacs linke Hand gelegt. Er schloß die Hand fest, bis Blut zwischen den Fingern herausquoll und auf den Stein tropfte. Dabei hing sein Kopf merkwürdig schief, und sein Mund stand offen.
Es war Zeit für das Gebet.
Die Trommeln und die Gesänge verstummten. Die Stille war absolut. Citlallatonac öffnete den Mund, und die Sehnen an seinem Hals sprangen hervor, als er sich zu sprechen bemühte. Er stieß nur ein heiseres Krächzen aus.
Er strengte sich noch mehr an, aber plötzlich bäumte er sich auf, als wollte er einen Luftsprung machen, dann sackte er zusammen wie eine schlaffe Puppe und blieb reglos liegen. Itzcoatl rannte zu ihm hin und legte sein Ohr an die Brust des alten Mannes.
»Der Oberpriester ist tot«, sagte er leise, aber alle hörten die schreckliche Botschaft.
Ein fürchterliches Wehgeschrei erhob sich unter der versammelten Menge, und hinter dem Fluß, in Zaachila, hörten sie es und da wußten auch sie, was geschehen war.
Die Leute am Tempel warteten und hofften, obwohl es keine Hoffnung mehr gab, und sie betrachteten den Morgenstern, der mit jeder Minute am Himmel höherstieg. Bald stand er sehr hoch, höher als sie ihn je gesehen hatten, weil er an allen anderen Tagen vom Licht der aufgehenden Sonne verschluckt worden war.
Doch an diesem Tag gab es keinen roten Schein am östlichen Horizont. Die Dunkelheit wollte nicht weichen.
Diesmal schrie die Menge nicht vor Schmerz auf, sondern vor Furcht. Furcht vor den Göttern und ihrem schrecklichen Kampf, in dem sie die ganze Welt ins Unheil stürzten. Vielleicht hatten jetzt die Mächte der Dunkelheit gesiegt, und die ewige Nacht war angebrochen. Würde es dem neuen Oberpriester gelingen, Gebete zu sprechen, die die Sonne wiederbringen würden?
Sie schrien und rannten durcheinander. Einige der Fackeln verlöschten, und es herrschte Panik in der Dunkelheit.
Tief unter der Pyramide wurde Chimal von dem Geschrei und dem Getrampel aus dem Schlaf geweckt, den er endlich trotz seiner unbequemen Stellung gefunden hatte. Er konnte nicht verstehen, was die Leute riefen. Er versuchte sich auf die andere Seite zu drehen, konnte sich aber kaum
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