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Welt im Fels

Welt im Fels

Titel: Welt im Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Harrison
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bewegen. Er war seit vielen Stunden gefesselt, und zuerst waren die Schmerzen in den Hand- und Fußgelenken fast unerträglich gewesen. Aber dann waren sie taub geworden, und jetzt spürte er seine Glieder überhaupt nicht mehr.
    Was ging draußen vor? Er fühlte sich elend und müde und wünschte sich, daß schon alles vorbei und er endlich tot wäre.
    Draußen hörte er Schritte, jemand kam die Treppe herunter, tastete sich in der Dunkelheit an der Wand entlang, erreichte die Tür zu seiner Zelle und rüttelte an den Balken, die sie verschlossen.
    »Wer ist da?« rief er. »Seid ihr endlich gekommen, um mich zu töten? Warum gebt ihr keine Antwort?«
    Er hörte nur jemanden atmen, dann das Herausziehen des Sperrbolzens. Darauf wurden die beiden schweren Balken aus den Löchern gezogen, und er spürte, daß jemand die Zelle betreten hatte, neben ihm stand.
    »Wer ist da?« schrie er und versuchte sich an der Wand aufzurichten.
    »Chimal«, hörte er die ruhige Stimme seiner Mutter ganz nahe in der Dunkelheit.
    Sie kniete neben ihm nieder, und er spürte ihre Finger auf seinem Gesicht.
    »Was ist geschehen?« fragte er sie. »Was tust du hier – und wo sind die Priester?«
    »Citlallatonac ist tot. Er sprach die Gebete nicht, und die Sonne wird nicht aufgehen. Die Leute heulen wie die Hunde und rennen durcheinander.«
    Das glaube ich wohl, dachte er, und für einen Augenblick erfaßte ihn die gleiche Panik, bis ihm einfiel, daß es einem Mann, der den Tod vor Augen hatte, schließlich gleich sein konnte, ob die Sonne wieder aufging oder nicht.
    »Du hättest nicht kommen sollen«, sagte er zu ihr. »Geh jetzt, bevor die Priester dich hier finden und auch zum Opferstein schleppen.«
    »Ich muß dich befreien«, sagte Quiauh und tastete nach seinen Fesseln. »Was geschehen ist, habe ich verschuldet, nicht du.«
    »Es ist meine Schuld, nur meine. Ich war dumm genug, mich mit dem alten Mann zu streiten, und er erregte sich so sehr, daß er plötzlich krank wurde. Sie beschuldigen mich zu Recht.«
    »Nein«, sagte sie. Sie berührte die Fesseln an seinen Handgelenken und beugte sich dann über sie, weil sie kein Messer bei sich hatte. »Ich bin schuld, weil ich vor zweiundzwanzig Jahren sündigte, und die Strafe sollte mich treffen.« Sie begann, die zähen Fasern mit den Zähnen zu bearbeiten.
    »Wie meinst du das?«
    Quiauh hielt einen Augenblick inne, richtete sich in der Dunkelheit auf und faltete die Hände im Schoß. Was zu sagen war, mußte in der richtigen Form gesagt werden.
    »Ich bin deine Mutter, aber dein Vater ist nicht der Mann, den du kanntest. Du bist der Sohn von Chimalpopoca aus dem Dorf Zaachila. Er kam eines Tages zu mir, er gefiel mir und ich liebte ihn. Deshalb wies ich ihn nicht ab, obwohl ich wußte, daß es streng verboten war. Es war Nacht, als er über den Fluß zurück wollte, und Coatlicue die Schlangenarmige tötete ihn. All die Jahre danach habe ich darauf gewartet, daß sie mich auch holen würde, aber sie tat es nicht. Sie will sich schrecklicher an mir rächen. Sie will dich an meiner Stelle zum Opfer.«
    »Das kann ich nicht glauben«, sagte er, aber sie gab keine Antwort, weil sie wieder mit den Zähnen an seinen Fesseln kaute. Sie gaben allmählich nach, bis seine Hände schließlich frei waren.
    Sie nahm seine Hände in die ihren und massierte sie sanft, doch jede Berührung brannte wie Feuer.
    »Alles in der Welt scheint sich zu verändern«, sagte er fast traurig. »Vielleicht sollten die Gesetze nicht gebrochen werden. Mein Vater starb, und du hast die ganze Zeit mit dem Tod vor Augen gelebt. Ich habe das Fleisch gesehen, das die Geier fressen, und das Feuer am Himmel und jetzt die ewige Nacht. Verlaß mich, bevor sie dich finden. Es gibt keinen Ort, wohin ich fliehen könnte. Gib es auf! Laß mich hier.«
    »Du mußt fliehen«, sagte sie, während sie sich an den Fesseln um seine Fußgelenke abmühte.
    »Wir wollen jetzt gehen«, sagte sie, als er endlich wieder stehen konnte. Er stützte sich auf sie, als sie die Treppe hinaufstiegen, und es war ihm, als ginge er auf glühenden Kohlen. Hinter der Tür war Stille und Dunkelheit. Die Sonne war nicht aufgegangen. Über sich hörten sie das Gemurmel der Priester, die den neuen Oberpriester weihten.
    »Lebwohl, mein Sohn, ich werde dich nie wiedersehen.«
    Er nickte ihr zu, obwohl sie es nicht sehen konnte, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Ihre Worte waren wahr genug. Er umarmte sie, um sie zu trösten, bis sie ihn sanft von

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