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Welt im Fels

Welt im Fels

Titel: Welt im Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Harrison
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sich schob. »Geh jetzt!« sagte sie.
    Quiauh wartete in der Tür, bis seine Gestalt mit unsicheren Schritten in der Nacht verschwunden war, dann wandte sie sich um und ging ruhig die Treppe hinunter zu seiner Zelle. Von innen zog sie die Balken wieder in ihre Lage, obwohl sie sie nicht verriegeln konnte, dann setzte sie sich an die Wand.
    Das Warten war endlich vorbei, dieses jahrelange Warten. Der Tod würde viel leichter zu ertragen sein als die Furcht, die sie ihr ganzes Leben seit jener Nacht begleitet hatte.
     
8.
     
    In der Dunkelheit stieß jemand gegen Chimal und umklammerte ihn. Für einen schrecklichen Augenblick dachte er, er wäre wieder gefangen. Aber noch als er seine Faust ballte, um zuzuschlagen, hörte er, wie der Mann stöhnte und ihn losließ. Chimal taumelte weiter, mit ausgestreckten Händen, weg vom Tempel, weg von den Leuten, die in seiner Nähe waren. Als die Pyramide mit den flackernden Lichtern auf der Spitze nur noch ein großer Schatten in der Ferne war, ließ er sich fallen, lehnte sich mit dem Rücken an einen Felsbrocken und dachte nach.
    Er wußte, daß er mit einer unüberlegten Flucht nicht weit kommen würde. Die Dunkelheit war für ihn ein Schutz, kein Feind, und er mußte sie nutzen. Woran mußte er zuerst denken? An Wasser? Nein, nicht jetzt. Wasser gab es nur im Dorf, und dorthin konnte er nicht gehen. Auch zum Fluß nicht; solange es Nacht war, herrschte dort Coatlicue.
    Konnte er aus dem Tal entkommen? Seit vielen Jahren hatte ihn dieser Gedanke immer wieder beschäftigt. An manchen Stellen konnte man aufsteigen, aber nirgends sehr weit. Entweder wurde der Fels sehr glatt oder man geriet an einen Überhang.
    Wenn er doch fliegen könnte! Die Vögel konnten das Tal verlassen, aber er war kein Vogel. Sonst kam nichts aus dem Tal heraus, außer dem Wasser, aber er war auch kein Wasser. Aber er konnte im Wasser schwimmen, vielleicht fand er so einen Weg hinaus.
    Nicht, daß er das wirklich glaubte. Vielleicht hatte sein Durst etwas mit der Entscheidung zu tun, und die Tatsache, daß er zwischen dem Tempel und dem Sumpf war und daß es leicht sein würde, ihn zu erreichen. Seine Füße fanden einen Pfad, und er folgte ihm langsam durch die Dunkelheit, bis er die nächtlichen Geräusche des Sumpfes nicht weit vor sich hören konnte. Da hielt er an und ging wieder ein Stück zurück, weil Coatlicue auch im Sumpf sein konnte. Er fand eine sandige Stelle neben dem Pfad und legte sich hin. Seine Seite schmerzte, und sein Kopf dröhnte. Er hatte am ganzen Körper Wunden und Prellungen. Über ihm stiegen die Sterne höher, und er fand es merkwürdig, die Sommer- und Herbststerne in dieser frühen Jahreszeit zu sehen. Vögel riefen klagend vom Sumpf herüber, weil der Morgen nicht kam, und er schlief ein.
    Ab und zu wachte er auf, und das letztemal sah er eine ganz schwache Helligkeit im Osten. Er steckte einen Kieselstein in den Mund, um seinen Durst zu lindern, setzte sich auf und beobachtete den Horizont.
    Ein neuer Oberpriester mußte eingesetzt worden sein, vielleicht Itzcoatl, und die Morgengebete wurden gesprochen. Aber Huitzilopochtli mußte sehr schwer zu kämpfen haben. Lange Zeit änderte sich die Helligkeit im Osten nicht, doch dann verstärkte sie sich ganz allmählich, bis die Sonne über dem Horizont erschien. Der Tag hatte begonnen, und jetzt würde auch die Suche nach ihm beginnen. Chimal ging über den Hügel zum Sumpf und watete durch den Schlamm hinaus bis ins tiefere Wasser. Dort senkte er sein Gesicht ins Wasser, um zu trinken.
    Chimal sah seine Fußstapfen im Schlamm, aber es kümmerte ihn nicht. Es gab nicht viele Verstecke im Tal, und der Sumpf war das einzige, das nicht schnell abgesucht werden konnte. Er wandte sich um und watete weiter ins tiefe Wasser hinein.
    Hinter dem Schilfgürtel am Rande des Wassers begannen die hohen Bäume. Sie standen über dem Wasser auf ihren Wurzeln, die aussahen wie Stelzen, und ihr Laub bildete ein geschlossenes Dach. Dicke graue Flechten hingen von ihren Ästen herab ins Wasser, und unter den Blättern und Flechtengirlanden war es dunkel und roch modrig. Es wimmelte von Insekten. Stechmücken füllten die Luft und fielen über ihn her, als er tiefer in den Schatten vordrang. Nach wenigen Minuten schwollen seine Wangen und Arme an, und seine Haut war mit Blutflecken bedeckt, wo er die lästigen Tiere erschlagen hatte.
    Es gab auch größere Gefahren. Eine grüne Wasserschlange kam auf ihn zugeschwommen, den Kopf erhoben und die

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