WELTEN-NEBEL
musst dich irren.“
„ Nein. Aber ich kann verstehen, warum du das denkst. Da du ungeübt darin bist, hast du es nie bewusst wahrgenommen. Wahrscheinlich konntest du auch nur Gefühle und keine klaren Gedanken auffangen.“
Die Worte schienen Ewen zum Nachdenken zu bringen. „Du hast recht, ich war stets gut darin, die Gefühle anderer Menschen zu erahnen. Als du mit meinen Eltern sprachst, konnte ich fühlen, wie wütend du bist, obgleich ich dein Gesicht nicht sehen konnte.“
„ Lass uns gleich bei dieser Begebenheit bleiben. Du hast dabei meine Emotionen gespürt, aber auch ich konnte etwas spüren, nämlich deine Anwesenheit.“
„ Du wusstest also, dass ich da bin? Ich hoffe, du bist mir nicht böse, weil ich gelauscht habe.“
„ Aber nein. Worauf ich eigentlich hinaus wollte, ist die Tatsache, dass du aufgrund deiner starken Gabe für jeden mit dem kleinsten bisschen Talent ebenfalls spürbar bist, wenn du nicht lernst, deinen Geist abzuschotten. Gedankensehen ist kein Prozess, der nur in eine Richtung funktioniert. Daher sendet dein Geist ein Signal aus, das von anderen aufgefangen werden kann. Wenn dir jemand übel gesonnen ist oder du dich zu verbergen suchst, kann dies gefährlich werden. Ansonsten aber ist es einfach nur lästig, besonders für mich, da ich dich so ständig in meinem Geist spüre, wenn ich diesen nicht bewusst abschotte.“
„ Oh, das tut mir leid. Das wollte ich nicht.“
„ Du wusstest es ja nicht. Aber es wäre gut, wenn du schnell lernst, es abzustellen.“
„ Einverstanden, lass uns sofort beginnen.“
Nach anfänglichem Leugnen hatte sie es gut aufgenommen, worüber Wilka froh war. Auch hatte sie eingesehen, dass sie Training brauchte. Es würde ein langer Weg werden, bis Ewen ihre Gabe vollkommen beherrschte. Allein das Erlernen des bewussten Ausschaltens der Gabe und das Abschirmen des Geistes würde wohl ein Jahr in Anspruch nehmen. Die volle Ausbildung konnte, so hatte es in einem der Bücher geheißen, bis zu zwanzig Jahre in Anspruch nehmen. Wilka wusste, dass ihr diese Lebenszeit wohl nicht mehr vergönnt sein würde, daher mussten sie so viel Zeit wie möglich darauf verwenden, ohne dabei mit der eigentlichen Ausbildung zur Bewahrerin ins Hintertreffen zu geraten.
Ihr Kopf schmerzte wie noch nie in ihrem Leben, dennoch versuchte sie, sich zu konzentrieren und Wilkas Anweisungen zu folgen. Seit sieben Tagen taten sie kaum etwas anderes als das Verbergen ihrer Gabe zu üben. Bis jetzt hatte sie aber kaum Erfolg gehabt. Zwar gelang es ihr unter höchster Konzentration, doch sobald ihre Aufmerksamkeit nachließ, fiel die Barriere, die sie um ihren Geist errichtete, in sich zusammen, was Wilka immer mit dem Satz 'Ich kann dich spüren' kommentierte. Langsam zweifelte sie daran, dass ihr je eine dauerhafte Abschirmung gelingen würde, auch wenn ihre Lehrerin ihr stets versicherte, dass sie gute Fortschritte machte und dass es ihr mit der Zeit immer leichter fallen würde. Das Ziel der Übung war, die Barriere permanent aufrecht zu halten, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Irgendwann sollte sie so selbstverständlich sein wie Atmen.
Die Bewahrerin selbst hatte diese Stufe nie gemeistert, es nie angestrebt, da sie als schwache Gedankenseherin ihrerseits nur von sehr starken Gedankensehern wahrgenommen wurde, Ewen war die Erste, der es überhaupt gelungen war. Das Summen am Bach war nämlich nichts anderes gewesen als Wilkas Anwesenheit. Als ihr Wilka dies eröffnete, war sie zunächst verwirrt gewesen, den seitdem hatte sie das Summen nie wieder vernommen, obgleich sie ihrer Lehrerin stets nahe war. Als sie diese aber darauf angesprochen hatte, hatte sie ihr geraten, sich zu konzentrieren und in sich hineinzuhorchen. Und tatsächlich, das Summen war noch immer da, ihr Geist hatte es nur verdrängt. Ganz unbewusst hatte sie gelernt, störende Effekte ihrer Gabe auszublenden. Wenn sich doch alles so leicht erlernen ließe.
Sie saß schon seit mehreren Minuten regungslos da und obgleich ihre Gedanken zwischenzeitlich abgeschweift waren, hatte die Barriere anscheinend gehalten. So lange hatte es noch nie funktioniert. Sie bemühte sich ihre Freude zu dämpfen und erhob sich, um zu erproben, ob es ihr gelänge, die Abschirmung auch bei Alltagstätigkeiten beizubehalten. Sie ging, um frisches Wasser aus dem Bach zu holen, dann spülte sie das Geschirr. Selbst als Wilka sie überraschend ansprach, hielt der Schutz stand. Doch sie konnte spüren,
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