WELTEN-NEBEL
wie sehr sie die Belastung erschöpfte. Sie fühlte sich müde, obgleich es erst früher Nachmittag war. Auch Wilka schien ihr Ermüden zu bemerken, den sie hieß sie, aufzuhören. Sie lobte sie und Ewen spürte Euphorie und Zuversicht, zum ersten Mal glaubte sie daran, dass sie es schaffen konnte.
Jahr 3633
Hort der Bewahrerin, Martul
Manchmal war es ihr, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie in das Haus der Bewahrerin gekommen war, dann wieder schien sie schon ewig hier zu sein. In Wirklichkeit stand ihr der dritte Winter in den Bergen bevor. Noch immer war vieles neu und aufregend für sie. Wilka sorgte dafür, dass Ewen jeden Tag etwas Neues lernte. Dafür war sie ihr sehr dankbar, denn es gab ohnehin genug Momente, in denen sie sich im Alltagstrott gefangen fühlte. Sie hätte es nur schwer ertragen, wenn sie zusätzlich noch längere Zeit mit eintönigen Lese- und Schreibübungen hätte verbringen müssen. Obgleich sie durchaus einsah, dass es für eine Bewahrerin unerlässlich war, beides besser zu beherrschen, als man dies nach vier Jahren Dorfschule tat. Die Texte, die ihre Lehrerin für die Übungen auswählte, waren meist so interessant, dass sich der Unterricht innerhalb kürzester Zeit zu einer Lektion der Naturkunde oder Geschichte entwickelte. Es gab so viel, wovon sie keine Ahnung gehabt hatte, und sie war sich sicher, dass dies auch auf einen Großteil der Bevölkerung Martuls zutraf. Wilka hatte ihr erklärt, dass die meisten auch kein Interesse daran hätten. Die Menschen hatten sich gut in ihren Leben eingerichtet und betrachteten jede Neuerung mit Argwohn. Ohne die Bewahrerinnen wäre unendlich viel Wissen dem Vergessen anheimgefallen.
Ewen rührte in dem Topf mit Suppe, das Essen war gleich fertig. Doch statt nach Wilka zu rufen, sandte sie eine stumme Aufforderung in ihren Geist. Sie hatte sich angewöhnt, ihre Gabe des Gedankensehens auf diese Weise zu trainieren, inzwischen gelang es ihr zumeist. Drei Monde hatte es gedauert, bis sie die Barriere um ihren Geist dauerhaft und ohne Anstrengungen aufrechterhalten konnte, erst danach hatte Wilka sie zum aktiven Einsatz der Gabe angeleitet. Die Kommunikation auf geistiger Ebene war die erste Lektion gewesen. Es war relativ einfach, eine andere Person, die man gut kannte und die nicht allzu weit entfernt war, zu rufen. Während Wilka anfangs nur eine diffuse Präsenz verspürt hatte, konnte Ewen ihr inzwischen einfache Botschaften übermitteln. Auch konnte sie Wilkas Antworten spüren. Eine wirkliche Unterhaltung erforderte jedoch noch viel Kraft. Dennoch versuchte sie es unablässig, denn Wilka wollte sie erst dann in weiteren Anwendungen ihres Talentes unterrichten, wenn diese Stufe zuverlässig und ohne große Anstrengung gelang. Ihre Lehrmeisterin antwortete auf den Ruf und erschien wenig später in der Küche, um mit Ewen gemeinsam zu Mittag zu essen.
Danach kümmerte sich Ewen um allerlei Verrichtungen im Haushalt, während Wilka einen Mittagsschlaf hielt. Auch wenn sie bei guter Gesundheit war, machte sich das Alter doch bemerkbar. Ewen sah es daher als selbstverständlich an, ihr so viel Arbeit wie möglich abzunehmen und ihr Zeit für Ruhepausen zu lassen.
Heute erledigte sie den Abwasch besonders gut gelaunt, denn für den Nachmittagsunterricht hatte Wilka ihr eine Überraschung angekündigt. Was das wohl sein würde?
In den zwei Jahren, die Ewen nun bei ihr war, hatte sie große Fortschritte gemacht. Ihre Schreibfähigkeiten hatten schon fast das benötigte Niveau erreicht. Wenn im nächsten Sommer die Boten aus ganz Martul eintrafen, um die jährlichen Berichte abzuliefern, so würde es Ewen sein, die diese in das Buch der Geschichte übertrug. Auch hatte das Mädchen jedwedes Wissen begierig aufgenommen. Stets war es darauf bedacht, seine Kenntnisse noch zu vergrößern.
Auch in ihrer freien Zeit sah Wilka sie häufig mit jenen Büchern, die sie auch für den Unterricht nutzen. Immer wieder hatte Wilka neue Bücher aus der Höhle holen müssen. Es wunderte sie, dass Ewen noch nicht gefragt hatte, woher die Menge an Schriften stammte. Vielleicht hatte sie es nicht gewagt.
Fortan aber würde es ohnehin kein Geheimnis mehr sein, denn heute, genau zwei Jahre nach Ewens Ankunft, würde sie ihr die Höhle zeigen. Erst mit diesem Schritt würde sie offiziell zu ihrer Nachfolgerin werden. Wenn die Götter zuließen, dass sie die Höhle betrat, gaben sie ihren Segen dazu. Erst dann konnte sie beginnen, sie in die wahrer
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