WELTEN-NEBEL
„Guten Morgen, Vater und Mutter. Guten Morgen, Wilka. Wie ich sehe, habt ihr euch schon kennengelernt. Hat Wilka euch schon berichtet, dass ich mit ihr gehen werde?“
Ihr Vater sagte: „Ja, Ewen, und wir sind damit einverstanden.“
Im Stillen dachte sie: 'Wilka hat euch ja auch keine andere Wahl gelassen.' Aber sie erwiderte nichts.
Das Frühstück nahmen Wilka und sie gemeinsam mit ihrer Familie ein und nach einem Abschied, dem es gänzlich an Emotionalität mangelte, machten sie sich auf in Richtung Berge. Mit jedem Schritt, der sie von ihrem Heimatdorf wegführte, fühlte sie sich freier und beschwingter. Nach einer Weile stimmte sie sogar ein Lied an.
Es war schön zu sehen, mit welcher Zuversicht Ewen ihr neues Leben als ihre Nachfolgerin begann. Die Götter hatten wahrlich eine vortreffliche Wahl getroffen. Nur eine Sache bereitete Wilka Kopfzerbrechen: Ewens starke Gabe des Gedankensehens. Eine solche Begabung verliehen die Götter nicht ohne Grund, dem Mädchen musste Großes vorherbestimmt sein. Wilka hoffte, dass es ihr gelingen würde, ihre Nachfolgerin ausreichend darauf vorzubereiten. Sie sandte ein stummes Gebet zu den Göttern, in dem sie um Kraft und Führung bat.
Während sie sich bemühte, mit der jugendlichen Leichtfüßigkeit Ewens Schritt zu halten, begann sie, Pläne für die Ausbildung des Mädchens zu machen. Sollte sie gleich damit beginnen, sie in der Beherrschung ihrer Talentes zu unterrichten? Am Morgen erst hatte sich gezeigt, wie stark diese Gabe bei Ewen ausgeprägt war. Ohne es zu wollen, hatte sie Wilka ihre Anwesenheit verraten. Auch war sie sich fast sicher, dass Ewen unbeabsichtigt Zeugin ihrer Emotionen geworden war. Es wäre angenehmer für sie beide, wenn das Mädchen schnell lernte, wie sie ihre Gabe ausblenden konnte. Wenn sie permanent Wilkas Gefühle und Gedanken spürte, würde es sie belasten. Aus den Büchern der Höhle wusste Wilka, dass es in der Vergangenheit einzelne Fälle gegeben hatte, in denen Gedankenseher ob des ständigen Zustroms fremder Gefühle den Verstand verloren hatten. Daher würde sie gleich morgen mit dem Unterricht beginnen.
Fünf Tage hatten sie sich ihren Weg durch die zerklüftete Berglandschaft gebahnt, bevor sie den Hort des Bewahrens erreichten. Hier in den Bergen waren die ersten Vorboten des nahenden Winters schon deutlich spürbar, die Nächte waren kalt und am Vortag waren ihre Schlafdecken am Morgen mit Reif bedeckt gewesen. Wilka spürte den nahenden Winter in ihren Knochen. Er kam ungewöhnlich früh in diesem Jahr und würde sie für sechs Monde von allem abschneiden. Es war fast so, als wollten die Götter ihnen die nötige Ruhe für den Unterricht verschaffen.
In den wenigen Tagen, die sie mit Ewen gereist war, hatte Wilka bereits feststellen können, wie lernwillig und klug das Mädchen war. Die Übungen, die ihr helfen sollten, ihren Geist zu fokussieren und sich zu konzentrieren, hatte sie trotz der kurzen Zeit bereits gut verinnerlicht. Noch hatte Wilka ihr jedoch den Zweck dieser Techniken nicht enthüllt. Sicher wäre es für das junge Mädchen nicht leicht, mit einer solch mächtigen Gabe konfrontiert zu sein. Daher schien ihr ein behutsames Vorgehen angeraten. Auch wollte sie selbst noch einen Blick in die Bücher werfen, bevor sie mit dem eigentlichen Training des Gedankensehens begann. Da ihre eigenen Kräfte nur schwach ausgeprägt waren, musste sie alle verfügbaren Quellen nutzen, um Ewen bei der Beherrschung ihres Talents zu unterstützen. Sicher unterschieden sich Ewens Wahrnehmungen von den ihren.
Wilkas Lehrmeisterin war eine starke Gedankenseherin gewesen und sie hatte Wilka oft vor den potenziell zerstörerischen Aspekten dieser Kunst gewarnt. Nicht nur der Geist des Ausübenden konnte geschädigt werden, auch andere Personen konnten in Mitleidenschaft gezogen werden. Sie konnte nicht riskieren, dass Ewen oder ihr etwas Derartiges widerfuhr.
Sie hatte eine kleine Holzhütte erwartet, doch die Wohnstätte der Bewahrerin war aus solidem Stein und stand ihrem Elternhaus in Größe kaum nach. Gleich nach ihrer Ankunft führte Wilka sie herum. Es gab eine große Küche, einen gut gefüllten Vorratsraum, eine Wohnstube, ein Schreibzimmer sowie zwei Schlafräume, von denen einer in Zukunft ihr Reich sein würde.
Durch Wilkas Abwesenheit war alles mit einer dicken Staubschicht überzogen und es würde sicher einige Stunden dauern, alles herzurichten, doch Arbeit schreckte sie nicht. Ohne auf
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