WELTEN-NEBEL
erläuterte sie ihre Idee. Die Bewahrerin zeigte sich beeindruckt von Ewens Erfindungsgeist. Angesichts des sofortigen Erfolges schlug sie vor, dass sie von nun an stets diese Art von Schutz gegen das Eindringen in ihren Geist verwenden sollte, da er noch unauffälliger war als die zuvor angewandte Methode. Wer auch immer, ob nun zufällig oder bewusst, Ewens Geist streifte, er würde nicht erkennen, dass sie eine mächtige Gedankenseherin war und in der Lage, ihr Inneres zu verbergen. Nach außen erschien sie komplett harmlos.
Auch am Abend hatte sich ihr Staunen über Ewens Fähigkeiten noch nicht gelegt. Nie hätte sie gedacht, dass ein Mädchen, dass gerade erst vierzehn geworden war, zu einer solchen Leistung imstande wäre. Die Götter mussten wahrlich Großes mit ihr im Sinn haben. Daher war es unerlässlich, dass sie sie nun endlich auch in die aktive Benutzung des Gedankensehens einwies, auch wenn es ihr eigentlich widerstrebte. Sie hatte es nie als besonders ehrenhaft angesehen, ungefragt in fremde Gedanken einzudringen. Sie selbst hatte es nur einige wenige Male getan und auch nur dann, wenn sie es für unbedingt erforderlich hielt, um mögliche Gefahren abzuwenden. Nicht alle Bewohner Martuls waren der Bewahrerin gegenüber freundlich. Wann immer sie über das Land gereist war, hatte sie sich auch vor Dieben und Räubern in acht nehmen müssen. Zwar gab es von diesen wenige, denn die Strafen waren hart, aber insbesondere im höheren Alter stellte sie eine leichte Beute dar. Wenn ihr ein Mensch daher bedrohlich vorgekommen war, so hatte sie Gebrauch von ihrer Gabe gemacht, um dessen Absichten zu ergründen. Zwei Mal hatte sie sich dadurch vor Übergriffen schützen können. Dennoch war es stets ein verstörendes Erlebnis gewesen. Die Konfrontation mit fremden Gedanken barg stets auch das Risiko, Dinge über Menschen zu erfahren, die das eigene Bild von ihnen erschütterte oder zerstörte. Daher war es stets besser, der Versuchung zu widerstehen und sich auf die Äußerungen und Handlungen zu verlassen. Aus diesem Grund hatte sie bis jetzt gezögert, Ewen in diese Aspekte des Gedankensehens einzuführen.
Jahr 3635
Hort der Bewahrerin, Martul
Ihr viertes Lehrjahr bei der Bewahrerin ging zu Ende. Obgleich sie schon viel gelernt hatte, war es ihr, als habe sie erst einen Bruchteil des Wissens erworben, das notwendig war. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Wilka ihr immer mehr Aufgaben übertrug. In ihrem dritten Jahr hatte sie die jährlichen Geschichtsaufzeichnungen so gut wie alleine bewältigt: Sie hatte die Abgesandten der Dörfer empfangen und ihre Berichte entgegengenommen, diese gelesen und sortiert und anschließend in einen großen gebundenen Folianten übertragen. Ihre Lehrerin hatte sich mit dem Ergebnis so zufrieden gezeigt, dass sie in diesem Jahr nicht einmal mehr einen Blick auf die Aufzeichnungen geworfen hatte. Auch hatte sie ihr zahlreiche andere Schreibarbeiten übertragen.
Im Laufe des Herbstes hatte Ewen eine Abschrift eines besonders alten Werkes angefertigt, damit dieses fortan nicht mehr genutzt werden musste, um die schon stark angegriffene Struktur zu schonen. Anfangs war sie enthusiastisch an die Arbeit gegangen, da es sich um ein ihr noch unbekanntes Werk über die Zeit vor dem Großen Krieg handelte, doch je länger sie daran gearbeitet hatte, desto ernüchterter war sie. Im Wesentlichen war es eine Abhandlung über den Handel Tulups mit den anderen Reichen. Die nüchternen Tabellen waren kaum geeignet, Ewens Wissensdurst in Bezug auf die fernen Länder zu stillen. Hätte sie begleitend dazu nicht zahlreiche andere Abhandlungen über Helwa, Cytria, Elung und Atress gelesen, sie hätte nur wenig Wissen hinzugewonnen. So aber hatte sie einiges über die Nachbarländer Martuls erfahren. Dabei war sie sich aber stets bewusst, dass es sich um Informationen handelte, die fast viertausend Jahre alt waren. Seit die Götter den Nebel über sie gebracht hatten, waren keine neuen Erkenntnisse mehr dazugekommen. Die Zeitenwende hatte große Umwälzungen für Margan und Tulup mit sich gebracht, daher war es wahrscheinlich, dass auch die anderen Länder heute vollkommen anderes waren als damals. Sicher wäre es interessant, zu erfahren, wie die Menschen in den anderen Ländern nun lebten. Ob es dort überhaupt noch Menschen gab? Schließlich hatten die Götter auch hier nur wenige Menschen übrig gelassen, vielleicht hatten sie die anderen Völker vollständig
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