WELTEN-NEBEL
ausgemerzt. Aber nein, so grausam waren die Götter nicht. Sicher hatte es auch in den anderen Ländern gute Menschen gegeben, die von den Göttern verschont worden waren. Ihre Neugier war geweckt, doch sie sah keine Möglichkeit, etwas in Erfahrung zu bringen. Sie wusste, dass es keinen Weg gab, den Nebel zu durchdringen. Wann immer ein Mensch in den Nebel geriet, war er für immer verloren.
Zusätzlich zu dem Erwerb von Wissen und Fähigkeiten, die sie als spätere Bewahrerin benötigen würde, hatte Wilka ihr noch etwas anderes beigebracht, die Fähigkeit, fremde Gedanken zu sehen. Diese Lektion hatte sich als unerwartet kompliziert herausgestellt. Trotz ihrer starken Gabe war es ihr schwergefallen, dies zu erlernen. Vielleicht lag dies auch an den mahnenden Worten Wilkas, die diese noch vor Beginn der praktischen Übungen an sie gerichtet hatte. Die Warnung vor der Gefährlichkeit des Gedankensehens hatte sie möglicherweise unbewusst gehemmt. Auch die Aufzeichnungen ihrer Vorgängerinnen waren mehr als deutlich darin, wenn es darum ging, was einem allzu unbedachten Gedankenseher zustoßen konnte. Es konnte durchaus sein, dass man sich in den Gedanken eines Fremden selbst verlor und der eigene Geist auf ewig verwirrt war. Auch konnten negative Gedanken eines anderen Menschen den Gedankenseher mit in den Abgrund ziehen. Hinzu kam, dass es ein tief greifender Eingriff in das Leben eines anderen war, wenn man ungefragt in dessen Gedanken eindrang. Daher hatte Wilka ihr eingeschärft, ihre Gabe nur einzusetzen, wenn es unbedingt notwendig war.
Zum Üben war sie mehrfach in Wilkas Geist eingedrungen. Anfangs war sie überwältigt gewesen von der Vielfalt der Gedanken, die sich auf ihr vollkommen fremden Pfaden durch den Geist der Bewahrerin wanden. Es war schwierig gewesen, gezielt nach Gedanken oder Gefühlen zu suchen. Erst als sie diesen Schritt gemeistert hatte, war Wilka mit ihren Lektionen einen Schritt weiter gegangen. Anhand von Büchern hatte sie gelernt, wie man Schilde durchdrang, die den fremden Geist umgaben. Wilka war nur zu einem schwachen Schild in der Lage, sodass Ewen dabei keine Probleme hatte. Dennoch hatte sie die Techniken lange und intensiv geübt, um im Ernstfall auch stärkere Schilde durchdringen zu können. Vor einem Mond dann hatte sie begonnen, eine Möglichkeit zu erlernen, die ihr Eindringen in den fremden Geist verschleierte. Für gewöhnlich konnten Menschen den Blick in ihren Geist zwar nicht spüren, verfügten sie jedoch selbst über die Gabe des Gedankensehens und hatten einen Schild errichtet, so vermochten sie es zu bemerken. Intensives Training hatte dazu geführt, dass Wilka Ewens Geist inzwischen nicht mehr wahrzunehmen vermochte, doch auch hier war sie sich nicht sicher, was bei einem begabteren Gedankenseher geschehen würde. Insgeheim hoffte sie, dies nie herausfinden zu müssen. Je mehr sie über ihre Begabung erfuhr, umso unheimlicher wurde sie ihr. Selbst die harmlose Gedankenkommunikation nutzte sie daher nur noch selten. Auch war sie froh, dass sie mit dem heimlichen Eindringen die letzte Lektion gemeistert und Wilka ihre Lehrstunden eingestellt hatte.
Allerdings beunruhigte sie die abnehmende Anzahl der Lehrstunden auch. Immer häufiger sprach Wilka davon, dass ihre Arbeit bald getan wäre. Hieß das, sie spürte ihr Ende kommen? Mit ihren noch nicht mal sechzehn Jahren fühlte Ewen sich zu jung, um ihre Nachfolge anzutreten. Immer wieder versuchte sie daher, sich mit der ungebrochen guten Gesundheit der Bewahrerin zu beruhigen. Hatte Wilka nicht gesagt, dass die Götter die Bewahrerinnen mit ungewöhnlich langen Lebensspannen segneten? Ihr war unwohl bei dem Gedanken, ihre Tage hier alleine verbringen zu müssen. Zwar stände es ihr frei, den Sommer über durch die Dörfer zu reisen und die Vorjahresberichte selbst abzuholen, doch die Winter in den Bergen wären dennoch lang und einsam.
Zufrieden betrachtete sie Ewen, die in der Schreibstube über ein dickes Buch gebeugt war. Der Wissensdurst und die Gelehrsamkeit Ewens hatte ihre Erwartungen übertroffen. Was immer sie ihr beigebracht hatte, sie hatte schnell gelernt und stets Interesse an weiteren Fakten gehabt. In den vier Jahren hatte sie Ewen alles beigebracht, was sie brauchte, um eine gute Bewahrerin zu sein. Ihre Arbeit war getan und das war auch gut so. Sie spürte, dass ihre Zeit langsam gekommen war. Noch diesen Winter würde sie aus der Welt scheiden. Täglich erwartete sie den Ruf der Götter.
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