WELTEN-NEBEL
Schon vor einem Mond hatte sie einen Brief an Ewen verfasst, in dem sie ihr für die gemeinsame Zeit dankte und ihr für ihr Leben als Bewahrerin alles Gute wünschte. Zu gegebener Zeit würde sie den Brief für Ewen bereitlegen.
Sie musste eingenickt sein, während sie in dem bequemen Lehnstuhl sitzend ihren Gedanken nachhing. Sie erkannte, dass es sich um einen von den Göttern gesandten Traum handeln musste. Sie war von hellem Licht umgeben und tausend Stimmen riefen ihren Namen. Es war also so weit. Sie erwachte und erhob sich. Sie umarmte Ewen, die sie fragend anblickte. Doch dies war nicht die Zeit für Erklärungen. Ohne ein Wort brach sie auf. Es war Mittag, als sie sich auf den Weg machte. Ohne nachzudenken, lenkte sie ihre Schritte in Richtung des Gipfels des Bergs Gimji, dem höchsten Berg des Landes, an dessen Flanke sie ihr Leben verbracht hatte. Noch nie hatte sie ihn in Gänze erklommen. Obgleich es Spätherbst war und die Nächte in den Bergen schon Frost mit sich brachten, spürte sie weder Kälte noch Angst. Kraftvoll und geschmeidig wie ein junges Mädchen erklomm sie den stummen Riesen. Die Sonne begann unterzugehen und die Farbe des Himmels wandelte sich allmählich von Rosa über Lila zu einem dunklen Blau. Der Gipfel war ganz nahe. Sie bemerkte, wie erste Nebelschwaden sie umgaben. Unbeirrt setzte sie ihren Weg fort. Es gab nichts mehr, was sie fürchten musste. Sie hatte den Göttern ein Leben lang treu gedient, eine gnadenvolle Aufnahme in ihre Gefilde war ihr gewiss. Als sie die Spitze des Berges erreichte, hatte der Welten-Nebel sie vollständig umfangen.
Sie war gegangen, ohne ihr zu sagen, wohin. Doch die Art, wie sie sie umarmt hatte, hatte Ewen gezeigt, dass eine Frage nicht angebracht war. Nachdenklich hatte sie sich wieder ihrem Buch zugewendet. Als die roten Strahlen der Abendsonne durch das Fenster fielen, drängten sich Bilder in ihre Gedanken, die sie zunächst nicht zuordnen konnte. Es dauerte, bis sie erkannte, dass es Wilkas Geist war, der ihr diese Eindrücke schickte. Offenbar war die Bewahrerin in den Bergen unterwegs. Allmählich gesellten sich Gefühle zu den Bildern. Sie spürte großen inneren Frieden, Zuversicht, sogar Freude. Vor ihren inneren Auge sah sie, wie Wilka tiefer in den immer dichter werdenden Nebel schritt. Dann empfing sie einen Gedanken: 'Angekommen'. Was nun folgte, ließ sich rational kaum erfassen. Es war ihr, als stände sie selbst dort auf dem Berg. Trotz des Nebels war es hell, trotz der Nacht umgab sie wohlige Wärme, unbekannte Klänge erschollen und es war ihr, als würde sie emporgehoben. Plötzlich aber riss die Verbindung ab. Sie war so tief in Wilkas Geist gefangen, dass es ihr zunächst war, als stürzte sie in ein tiefes Loch. 'Ich sterbe', dachte sie.
Als sie wieder zu sich kam, war es bereits tiefe Nacht. Sie brauchte eine Weile, bevor sie wusste, wo sie war und was geschehen war. Dann aber brach die Erkenntnis mit aller Wucht über sie herein. Sie war Zeugin von Wilkas Tod gewesen. Tränen liefen über ihr Gesicht. Nun war sie allein. Warum hatten die Götter ihr das angetan?
Drei Tage hatte sie gebraucht, bis sie sich wieder gefangen hatte. In dieser Zeit hatte sie weder gegessen noch sich um irgendetwas anderes gekümmert. Meist hatte sie nur dagesessen und vor sich hingestarrt. Im ganzen Haus war es eiskalt, da sie es versäumt hatte, die Feuer in den Öfen zu unterhalten. Die äußere Kälte passte zu ihrer inneren. Erst am Morgen des vierten Tages schaffte sie es, ihre Lethargie abzuschütteln. Noch bevor die Sonne aufging, ging sie nach draußen, um neues Holz zu holen. In der Nacht hatte es den ersten Schnee des Winters gegeben. Der frische Schnee verlieh der Dämmerung einen besonderen, eigentümlichen blauen Schimmer. 'Wie schön', ging es ihr durch den Kopf. Tief atmete sie die frische kalte Luft ein und, als habe sie damit neuen Lebensmut aufgenommen, schüttelte die Trauer ab. Wilka hatte Einlass in die Gefilde der Götter gefunden. Sie war mit einem langen und erfüllten Leben gesegnet gewesen. Sie war bereit gewesen zu gehen. 'Leb wohl, Wilka', flüsterte sie, bevor sie ins Haus zurückkehrte, um die Öfen zu heizen und ihren knurrenden Magen zu füllen.
Die Tür zu Wilkas Schlafstube aufzustoßen, hatte sie Überwindung gekostet, doch sie zwang sich dazu. Schließlich musste sie auch dort nach dem Rechten sehen. Seit Wilkas Tod war ein Mond verstrichen und sie hatte langsam ihren Tagesrhythmus gefunden.
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