WELTEN-NEBEL
Bewahrerin, Martul
Nicht schon wieder. Gerade hatte sie sich nach einem langen Tag niedergelegt, als sich eine Verbindung mit Btol durch die übliche Eintrübung ihrer eigenen Gedanken ankündigte. Sie hatte einen anstrengenden Tag gehabt. Von früh bis spät hatte sie über den Dorfchroniken gesessen und sie in ihre Bücher übertragen. Manche Dorfschreiber hatten wirklich kein Talent für ihre Aufgabe. Teilweise mangelte es an der notwendigen Klarheit im Ausdruck, andere Texte waren aufgrund der schlechten Handschrift kaum lesbar. Mit einer einfachen Abschrift war es daher vielfach nicht getan. Vielleicht sollte sie sich dafür einsetzen, dass die Schreiber in Zukunft eine besondere Ausbildung erhielten. Dann wäre es weniger mühsam für sie.
Hoffentlich ging die Verbindung zu Btol diesmal schnell vorbei. Sie brauchte wirklich ihren Schlaf. Das Bild, das sie sah, wurde klarer. Entgegen ihrer Erwartungen befand sich Btol offensichtlich weder in dem großen Gebäude noch in dessen unmittelbarer Umgebung. Sie blickte durch seine Augen in eine offene Landschaft. Felder und Wiesen erstreckten sich bis zum Horizont. Sie glaubte, im Hintergrund eine Wasserfläche zu erblicken, vielleicht das Meer. Möglicherweise würde sie dieses Mal endlich etwas Neues erfahren. Augenblicklich war sie hellwach.
Der junge Mann schien sich auf einer Reise zu befinden. Nach und nach sah sie mehrere Personen, alles Männer, und mehrere ihr unbekannte Tiere, die mit Säcken und allerlei Zeug beladen waren. Sie alle befanden sich auf einem Weg, der sich durch die Ackerflächen wand, und schritten voran. Bisweilen blieb Btol stehen, wandte sich um und sprach mit einem der anderen Männer. Meist aber führte er den Zug forschen Schrittes an. Sie versuchte, seine Gefühle zu erspüren. Noch hatte sie keine wahrnehmen können. Selbst der Kontakt mit den anderen Personen hatte keine seiner üblichen negativen Gefühle ausgelöst. Sie mühte sich eine Weile, konnte jedoch nichts verspüren. Ewen wollte bereits aufgeben, doch dann fühlte sie etwas: Neugier. Sie war unsicher, ob es sich dabei nicht um ihre eigene handelte, aber eigentlich war die Wahrnehmung dafür zu schwach. Aus seiner Neugier und der Art, wie er ausschritt und sich umsah, schloss sie, dass der Ort, an dem er sich befand, für ihn neu war.
Ein Dorf kam in Sicht und sie richtete ihr Augenmerk wieder auf das Umfeld. Die Siedlung war nicht groß. Sie erkannte ein gutes Dutzend Gebäude, sowohl Wohnhäuser als auch Scheunen. Ein Wagen, vor den ein Tier gespannt war, stand hochbeladen vor einem der Häuser. Nun, es war fast Herbst und damit wahrscheinlich auch in jenem fremden Land Erntezeit. Im weiteren Verlauf wurde sie Zeugin einiger typischer Dorfszenen, die sich genauso gut hätten in Martul abspielen können. Nur dass die Menschen dort anders aussahen als hier. Die meisten hatten braunes Haar und eine dunklere Haut. Das kam sicher daher, dass die Sonne dort intensiver war als im von Nebel eingehüllten Martul. Schon bei den Leuten in Btols Heim war ihr diese charakteristische Erscheinung aufgefallen, Btol mit seinem blonden Haar unterschied sich deutlich von den anderen Menschen. Gerade als Btol auf einen der Dorfbewohner zuging, brach die Verbindung zu ihm ab.
Sie hatte so viel gesehen, sie musste es unbedingt niederschreiben. Obgleich es mitten in der Nacht war, erhob sich Ewen und begab sich in ihre Schreibstube.
Jahr 3636 Mond 9 Tag 28
Südliche Küstenregion, Helwa
Seit fast einem Mond reiste er nun schon mit seinem Gefolge durch Helwa. Bis jetzt hatten sie sich stets an der Küste entlang bewegt. Die östlichen und südlichen Küstenregionen waren vom Landbau geprägt, denn sie stellten die einzigen fruchtbaren Gebiete Helwas dar. Dementsprechend intensiv wurden sie genutzt. Jede verfügbare Fläche war mit Feldern bedeckt und die einzelnen Dörfer lagen nie mehr als eine Tagesreise voneinander entfernt. Da Erntezeit war, herrschte geschäftiges Treiben und für Btol gab es viel zu entdecken. Doch allmählich wiederholten sich die Bilder und Ereignisse; die anfängliche Euphorie begann zu verfliegen, doch alles war besser, als seine Tage im Palast zu verbringen. Dennoch versuchte er fast täglich, seine Begleiter davon zu überzeugen, den vorgeplanten Weg bis zum Westspitzen-Gebirge aufzugeben und stattdessen ins Landesinnere zu ziehen. Noch sträubten sie sich beständig, seine Mutter hatte bei der Auswahl wirklich ganze Arbeit geleistet. Die Soldaten und
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