WELTEN-NEBEL
gefährlich zu sein. Sie waren wohl auch bloß Menschen. Mit dieser Ansicht aber stand sie ziemlich alleine da. Die meisten Bewohner der Siedlung, einschließlich des Anführers, glaubten, die zwei wären Boten aus der Welt der Götter oder Geister, geschickt, um die Menschen zu prüfen. Für die Fremden war das Glück, denn anderenfalls hätte man sie kaum so gut behandelt. Hätte man sie als gewöhnliche Menschen erkannt, hätten sie ein Leben als Sklaven zu erwarten gehabt. Doch die Atresser fürchteten den Zorn der Götter und so sahen sie sich gezwungen, die beiden Fremden mit Respekt zu behandeln und gut zu versorgen.
Bevan hoffte für die Fremden, dieser Zustand möge noch lange anhalten. Hoffentlich taten sie nichts, was Zweifel an ihrer vermeintlichen Funktion aufkommen ließ. Der schlechte Gesundheitszustand der Frau war schon ein Risiko. Daher hatte sie sich entschlossen, ihr zu helfen. Sie hatte sie lange genug beobachtet und glaubte zu wissen, was ihr fehlte. Das Kraut, das sie ihr gegeben hatte, würde ihr Linderung verschaffen, bis die Beschwerden in ungefähr einem Mond von selbst verschwänden. Damit aber wäre die Sache noch nicht ausgestanden. Der schützende Irrglaube der Bevölkerung würde bald ins Wanken geraten. Daher konnte Bevan den beiden Fremden nur helfen, wenn sie ihnen die Möglichkeit eröffnete, mehr über die Menschen zu erfahren. Das Verständnis der Sprache war der Schlüssel. Aus diesem Grund hatte sie beschlossen, sie Atressian zu lehren.
Sie hoffte, dass man sie gewähren lassen würde. Schließlich war sie nicht so frei in ihrem Tun, wie sie es gerne gewesen wäre. Wenn man es genau betrachtete, so war Bevan eine Gefangene, eine Geisel des Bergstammes. Vor zwanzig Monden hatte ihr Vater, der Anführer des Küstenstammes, sie dem Bergstamm übergeben als Gewähr für den Frieden zwischen den Gruppen. Der Austausch von Geiseln war ein übliches Vorgehen, dass seit Jahrhunderten praktiziert wurde, um Streitigkeiten zwischen den Stämmen zu unterbinden.
Insgesamt gab es vier Stämme, die das Land Atress zwischen sich aufteilten: Neben dem Bergstamm im Norden und dem Küstenstamm im Süden existierten noch der Steppenstamm, der mit seinen Viehherden die Steppe Zentral- und Ostatress bevölkerte, und der Waldstamm aus dem Westen. Der Friede zwischen diesen Stämmen war ein fragiles Gebilde und immer wieder geschah es, dass der ein oder andere Stamm zu den Waffen griff, um seine Macht und seinen Einfluss zu mehren. Dabei wäre es zum Nutzen aller gewesen, wenn man zusammengearbeitet hätte. Ein jeder Stamm verfügte über bestimmte Ressourcen, an denen die anderen ebenfalls Interesse hatten, doch aufgrund des gegenseitigen Misstrauens war Handel so gut wie unmöglich. Und so hatte der Bergstamm zwar Metall im Überfluss, doch ständig mangelte es an Holz. Auch Feldfrüchte und Fleisch waren bisweilen knapp. Dabei hätte der Waldstamm Holz, Küsten- und Steppenstamm Nahrungsmittel liefern können.
Bevans Vater hatte einst den zaghaften Versuch unternommen, mit den beiden benachbarten Stämmen Handel zu treiben. Das Ergebnis war der Unmut des Bergstammes, der dahinter eine Verschwörung gegen sich vermutete. Um einen bewaffneten Konflikt zu vermeiden, hatte man sich schließlich auf den Austausch von Geiseln geeinigt. Doch obwohl sein Verhalten sie hierher gebracht hatte, zürnte Bevan ihrem Vater nicht deswegen. Auch sie glaubte daran, dass sein Versuch richtig gewesen war. Bloß hätte er den Bergstamm ebenfalls zu den Gesprächen über den Handel einladen sollen.
Es war nicht so, dass sie von den Menschen des Bergstammes schlecht behandelt wurde, doch sie wurde ausgeschlossen. Obgleich sie wie jede Frau ihren Beitrag zur Feldarbeit, zum Waschen, Nähen und Kochen leistete, vermieden die anderen einen allzu engen Kontakt zu ihr. Daher war sie oft einsam. Die beiden Fremden waren ihre Möglichkeit, aus der Isolation zu entfliehen. Wenn sie ihnen half, so half sie letztlich auch sich selbst.
Nachdem sie nun erste zarte Bande zu der Frau geknüpft hatte, nahm sie sich vor, fortan täglich einige Zeit mit ihr und dem Mann, der allem Anschein nach ihr Ehemann war, zu verbringen.
Beinahe überschwänglich berichtete sie ihm von ihrer Begegnung mit Bevan. Rihnall teilte zwar die Begeisterung seiner Frau, doch wusste er wohl, dass dies nur ein erster Schritt war. Das Erlernen der fremden Sprache würde viel Zeit in Anspruch nehmen und es war nicht sicher, ob sie das überhaupt
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