WELTEN-NEBEL
Möglicherweise hatten die Götter ihnen diesen offensichtlichen und scheinbar einfachen Pfad nur eröffnet, um sie zu testen. Wenn dem so wäre, bedeutete dies, dass ihre Suche gescheitert war? Oder gab es einen Weg, die Götter doch noch gnädig zu stimmen? Je länger sie nachdachte und betete, desto verzagter wurde sie. Sie überlegte, mit Waylen über ihre Ängste zu sprechen, doch dieser war so fest davon überzeugt, dass es einen Weg von der Insel gab, dass sie nicht wagte, ihn seiner Hoffnung zu berauben. Immerhin war es ihre Schuld, dass er hier war. Er hatte sie begleitet, weil er ihr hatte helfen wollen und zum Dank dafür hatte sie ihn in diese aussichtslose Lage gebracht.
Tag 8 im Nebel
Kleine Insel vor der Küste, Martul
Ein schweres Gewitter hatte sie in der Nacht keine Ruhe finden lassen. Als er am Morgen wieder einmal ziellos über die Insel wanderte, entdeckte er einen Baum, der offenbar durch einen Blitzeinschlag gefällt worden war. Er wies unverkennbare Brandspuren auf. Beim Anblick des mächtigen Baumes, der dort auf dem Boden lag, kam ihm eine Idee. Wenn es irgendwie gelänge, ihn auszuhöhlen, konnte er vielleicht als Boot dienen. Es würde eng werden, aber sie würden sich hineinquetschen können. Er betrachtet den Baum genauer. Zuerst würde er das Astwerk entfernen müssen, dann konnte er damit beginnen, eine Höhlung zu schaffen. Sein Messer würde dabei sicher schnell stumpf werden, aber er hatte bei seinen Streifzügen über die Insel schon den ein oder anderen scharfkantigen Stein gefunden. Es wäre ein hartes Stück Arbeit, aber es wäre wahrscheinlich machbar. Er überlegte, Ihel sogleich von seiner Entdeckung zu berichten, entschied sich aber dagegen, wollte er doch keine falschen Hoffnungen in ihr wecken, wollte erst ganz sicher sein, dass seine Unternehmung gelingen konnte. Er würde ein Scheitern des Versuches verkraften, bei Ihel aber war er sich da nicht so sicher. Es hatte den Anschein, als habe sie jede Hoffnung aufgegeben, die Insel je wieder zu verlassen. Erst am Morgen hatte sie ihn wieder gedrängt, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie eine dauerhafte Behausung schaffen konnten. Bis jetzt war der Schutz der Bäume ausreichend gewesen, doch das nächste Gewitter wollte sie nicht im Freien erleben.
Tag 18 im Nebel
Kleine Insel vor der Küste, Martul
Nie fragte sie ihn, wohin er ging. Dabei war er zumeist den ganzen Tag fort, um an dem Schiff zu arbeiten. Wunderte sie sich nicht über seine Abwesenheit und darüber, dass er abends stets vollkommen erschöpft zu ihrem Lagerplatz zurückkehrte? Jeden Tag rechnete Waylen damit, dass sie ihn deswegen ansprach, doch nichts geschah. Sie wurde mit jedem Tag lethargischer und stiller. An manchen Tagen sagte sie nicht mehr als 'Guten Morgen' und 'Gute Nacht'. Währenddessen nahm sein Boot langsam Gestalt an. Stück für Stück hatte er den toten Baum von Ästen und Rinde befreit, nun hatte er begonnen, ihn auszuhöhlen. Die Steine gaben ein erstaunlich gutes Werkzeug ab, dennoch blieb es harte körperliche Arbeit, doch die Aussicht, diese Insel endlich verlassen zu können, trieb ihn an. Manchmal arbeitete er, bis seine Hände blutig waren und er die Arme vor lauter Schmerzen nicht mehr heben konnte. Da aber Ihel nichts von seinen Aktivitäten wissen sollte, noch nicht, durfte er sich seine körperlichen Beschwerden nicht anmerken lassen. Bevor er am Abend zu ihr zurückging, nahm er stets ein Bad im Meer, um den Schmutz der Arbeit abzuwaschen. Das Salzwasser brannte in den Wunden, reinigte sie aber auch.
Als er an diesem Abend zu Ihel zurückkehrte, fand er sie zusammengesunken an der Feuerstelle vor. Sie starrte einfach nur in die offenbar soeben entfachten Flammen. Als er näher kam, bemerkte er, dass ihr Körper unter Schluchzen erbebte. Er ging neben ihr in die Hocke und legte seinen Arm um sie. Sie lehnte sich gegen ihn, barg ihr Gesicht an seiner Brust. Mit seiner schwieligen, rauen Hand strich er ihr behutsam über das Haar.
„ Was ist los, warum weinst du?“
„ Warum sollte ich nicht weinen, wo wir doch den Rest unseres Lebens auf dieser Insel werden verbringen müssen. Unzählige Mal habe ich zu den Göttern gebetet, doch sie gaben keine Antwort. Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe, doch die Götter haben mich dafür bestraft, indem sie mich auf diese Insel brachten. Es tut mir so leid, dass ich dich mit ins Unglück gestürzt habe.“ Wieder wurde ihr Körper von einem Weinkrampf
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