WELTEN-NEBEL
seit nunmehr fast einem Mond lebten. Wenn sie mit ihrer Vermutung richtig lag, so befand sich Martul westlich ihrer jetzigen Position. Letztlich war es Waylens Ermutigung, ihrem Gefühl zu vertrauen, die den Ausschlag gab. Wenn sie dennoch falsch lag, so war Westen so gut wie jede andere Richtung.
Tag 30 im Nebel
Auf dem Meer
Ihr dritter Tag auf See brach an. Noch immer waren sie in Richtung Westen unterwegs, auch wenn ungünstige Winde sie zwischendurch mehr als einmal von ihrem Kurs abgebracht hatten. Nun aber war es windstill, sodass Waylen zu den Rudern greifen musste. Er hatte die halbe Nacht Wache gehalten und war müde, doch der Gedanke daran, anderenfalls einfach so als Spielball der Strömungen auf dem Meer zu treiben, gab ihm die Kraft, die er brauchte. Ihel, die die zweite Hälfte der Nacht gewacht hatte, schlief.
Ganz auf seine Bewegungen konzentriert, bemerkte er nicht, wie der Nebel schwand. Erst als er aufblickte und sich unmittelbar vor ihm Berge in den Himmel reckten, bemerkte es die fast klare Sicht und die Küste, die schon so nah war, dass es nur weniger weiterer Ruderschläge bedurfte, um sie zu erreichen. Als das Boot auf dem Strand aufsetzte, weckte der Ruck auch Ihel. Sie schaute sich nur kurz um, bevor ihr ein Ausruf der Freude entfuhr. „Wir haben es geschafft. Wir haben Martul erreicht.“
Binnen eines Augenblicks war sie aus dem Boot geklettert und er beeilte sich, ihr zu folgen. Sie zogen das Boot an Land, bevor sie sich die Zeit nahmen, sich umzusehen.
War das wirklich Martul? Er hoffte es inständig. Doch eigentlich gab es keine andere Möglichkeit. Sie hatten den Nebel durchquert, um hierher zu gelangen. Vielleicht vermochte Ihel ihm die Bestätigung geben. „Hast du das Gefühl, deinem Ziel nahe zu sein?“
Ohne zu zögern, sagte sie: „Ja. Ich kann es fühlen. Dies ist der richtige Ort. Aber warum geht die Sonne unter, habe ich den ganzen Tag verschlafen?“
„ Nein, gerade war es doch noch Morgen. Wie ist das möglich?“
„ Warte, ich glaube, ich habe eine Erklärung dafür. Die Quellen waren da zwar nicht besonders präzise, doch irgendwie vergeht die Zeit innerhalb des Nebels schneller als außerhalb. Auch wenn wir das Gefühl hatten, fast einen Mond auf der Insel verbracht zu haben, so ist es möglich, dass hier und auch im Rest der Welt nicht mehr als ein oder zwei Tage vergangen sind. Gewissheit aber werden wir erst haben, wenn wir jemanden treffen, den wir nach Tag und Mond fragen können. Wie dem auch sei, lass uns einen Platz für die Nacht suchen.“
Mond 5 Jahr 3737
Frühling
Östliche Küste, Martul
Auch die Tatsache, dass sie wieder an einer kargen, bergigen Küste gelandet waren, konnte ihre Freude über das Erreichen Martuls nicht mindern. Sie war überglücklich, der einsamen Insel entkommen zu sein. Auf Knien dankte sie den Göttern, weniger für ihre Hilfe dabei, als vielmehr für die Tatsache, dass sie ihr Waylen geschickt hatten, der selbst in den aussichtslosesten Situationen die Kraft besaß, nach einem Ausweg zu suchen. Sie vermochte kaum zu sagen, wie oft er schon dafür gesorgt hatte, dass sie ihren Weg fortsetzte, statt in Selbstmitleid und Verzweiflung zu versinken.
Sie warf einen Blick auf ihren schlafenden Begleiter. Selbst im sanften Mondlicht wirkten seine Züge angespannt, seit ihrer ersten Begegnung vor weniger als einem halben Jahr schien er um mehrere Jahre gealtert. Wie alt war Waylen eigentlich? Sie hatte ihn nie danach gefragt? Im Moment sah er aus, als habe er schon um die dreißig Sommer gesehen, bei ihrem ersten Zusammentreffen hatte er aber eher wie ein Zwanzigjähriger gewirkt. Eigentlich standen ihm die etwas härten Züge gut zu Gesicht. Er wirkte ernsthafter, wie jemand, auf den man sich verlassen konnte. Fast war es so, als habe sein Gesicht die gleiche Verwandlung vollzogen wie sein Charakter.
Gerne hätte sie sich selbst in einem Spiegel betrachtet. Ob die Reise auch in ihrem Gesicht solche Spuren hinterlassen hatte? Nun, selbst wenn dem so wäre, sie wusste, warum sie diese Opfer brachte. Zwischenzeitlich hatte sie es manchmal zu vergessen gedroht, dann waren ihr die ganzen Mühen sinnlos erschienen. Im Moment aber war sie zuversichtlich, dass ihre Reise schon bald ein gutes Ende finden würde. Nicht mehr lange, dann würde sie ihrem Vater gegenüberstehen. Ihr Blick richtete sich auf die Berge. Sie würden sie erklimmen müssen. Irgendwo dort oben war ihr Ziel.
So sehr sie sich auch
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