WELTEN-NEBEL
Zwar hatte sie schon Karten Cytrias gesehen, ihnen jedoch nie besondere Beachtung geschenkt, schließlich hatte sie ihr Leben im Tempel verbringen wollen. Vielleicht war es gut, dass alles so gekommen war und sie gezwungen gewesen war, diese Reise anzutreten.
Bei der Betrachtung der Karten aber schlich sich bald ein seltsames Gefühl ein. Sie brauchte jedoch eine Weile, um es in Worte zu fassen. „Es ist nicht komplett.“
Darija fragte: „Wie meint Ihr das? Ist es, weil nur zwei der sechs Flächen verändert sind?“
„ Nein, es fehlt auch etwas auf den zwei Flächen.“
Mawen schaltete sich in das Gespräch ein: „Ihr hat recht, dass zu Karten gewöhnlich eine Legende gehört.“
„ Das ist es nicht.“ Zada fuhr mit der Hand über die gemeinsame Kante der beiden Flächen. Als habe sie damit eine Staubschicht weggewischt, erschienen auf einmal Schriftzeichen ober- und unterhalb der Kante. Es war Helwarisch und es gelang ihr mühelos, sie zu entziffern:
'Der Welten-Nebel ist nur durchlässig während der Ebbe der Macht.'
Nachdem sie es den anderen beiden vorgelesen und übersetzt hatte, fragte sie: „Was meint ihr, hat das zu bedeuten?“
Mawen überlegte laut: „Nun, ich denke, mit dem Welten-Nebel ist die Barriere gemeint, die die einzelnen Welten voneinander trennt. Und mit der Ebbe der Macht ist wahrscheinlich die Zeit zwischen den Sonnenwenden gemeint. Vermutlich wird es uns nur in den Tagen um einundzwanzigsten Tag des neunten Mondes gelingen, nach Helwa zu segeln. Da wir aber die Entfernung dorthin nicht kenne, wird es schwierig, die richtige Zeit zum Aufbruch zu bestimmen.“
Darija meinte: „Vielleicht können wir das doch. Die Karten sind so detailreich, dass es mich wundern würde, wenn nicht auch die Entfernung zwischen den beiden Ländern exakt wäre. Und die Lage des Welten-Nebels würde ich an der Würfelkante vermuten. Allerdings wäre es gut, wenn wir eine Bestätigung für diese Annahmen hätten.“
„ Eure Vermutungen hören sich plausibel an, insbesondere, da die Länder nicht mittig auf den Würfelflächen liegen. Ohne genauere Untersuchungen würde ich die Gesamtdauer der Überfahrt auf anderthalb bis zwei Monde schätzen, das heißt, bis zum Welten-Nebel ist es maximal ein Mond. Wir sollten also Mitte bis Ende des achten Mondes in Jal aufbrechen. Meint Ihr, ich liege mit meiner Schätzung richtig, Darija?“
Die Angesprochene warf einen Blick auf den Würfel und nickte, bevor sie hinzufügte: „Allerdings müssten wir eine genaue Kopie machen und die Entfernungen ausmessen und mit bekannten Schifffahrtsstrecken vergleichen.“
Zada schaltete sich in das Gespräch ein: „Was meint Ihr, wie lange Ihr für eine Kopie der gesamten Karte und eine Berechnung der Entfernung braucht?“
„Sofern mir Darija hilft, werden wir maximal sechs Tage brauchen für exakte Kopien. Ihr könntet in der Zeit versuchen, eine Bestätigung für unsere Vermutung bezüglich der korrekten Entfernungsdarstellung von den Göttern zu erhalten.“
Sie hatte befürchtet, dass Mawen dies von ihr erwartete. Da sie Priesterin war, glaubten stets alle, sie habe eine besondere Verbindung zu den Göttern und könne nach Belieben mit ihnen kommunizieren. Doch so einfach war das nicht. Nur weil sie ihr Leben den Göttern gewidmet hatte, erhörten sie ihre Gebete auch nicht öfter als die gewöhnlicher Menschen. Dennoch würde sie ihr Bestes geben, um die Erwartungen der anderen beiden zu erfüllen. Bei der Kopie der Karten konnte sie ohnehin nur wenig helfen. Weder konnte sie besonders gut zeichnen, noch kannte sie sich mit Karten und Geografie im Allgemeinen aus. Nur bei den helwarischen Ortsnamen würde sie eventuell helfen können, doch dies war nur ein kleiner Teil der Arbeit. Daher antworte sie Mawen: „Gut, so lange können wir auf jeden Fall bleiben. Selbst wenn wir bis Ende des Mondes bleiben, können wir ohne Probleme vor Ablauf des siebten Mondes wieder in Jal sein. Während ihr die Kopien anfertigt, werde ich zu den Göttern beten und sie um ein Zeichen bitten.“
Über ihre Diskussionen war es Abend geworden und sie beschlossen, zu essen und sich zur Ruhe zu begeben. Die Ereignisse des Tages hatten sie alle erschöpft, und obgleich es noch einige Zeit hell sein würde, fehlte ihnen die Kraft, mit dem Kopieren fortzufahren.
Jahr 3619 Mond 6 Tag 26
Uralt-Wald
Durch Darijas Unterstützung war er schneller vorangekommen, als vermutet. Am Mittag hatte er die letzten Striche an den Karten
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