WELTEN-NEBEL
vermittelt mir eine Ruhe, die ich in Jal nirgendwo – nicht einmal im Tempel – finden kann. Auch Euer Herz scheint mir vor Sorgen schwer. Deshalb habe ich Euch gebeten, mich hierher zu begleiten.“
Sie schaute Zada an, die noch immer stumm dasaß, nicht wissend, was sie sagen sollte. Carlynns Worte überraschten sie; sie hatte gedacht, es sei ihr gelungen, ihren Gemütszustand vor den anderen zu verbergen. Ihr Gegenüber fuhr fort: „Ihr braucht nichts zu sagen und ich möchte Euch auch in keiner Weise bedrängen. Ich weiß, wie schwer es ist, wenn man unerwartet aus seinem Leben gerissen wird. Sicher habt Ihr Euch etwas anderes erhofft, als auf Geheiß der Götter auf eine solch gefährliche Reise zu gehen. Ich nehme an, Ihr sorgt Euch, ob Ihr die in Euch gesetzten Erwartungen erfüllen könnt. Bestimmt fragt Ihr Euch, ob Ihr im Begriff seid, etwas Falsches zu tun. Vielleicht zweifelt Ihr auch an Eurer Eignung für diese Unternehmung. Welche Sorgen Euch auch umtreiben, Ihr könnt mir gerne davon erzählen. Ich kann Euch keine Hilfe versprechen, wohl aber tröstende Worte und eine Schulter zum Anlehnen.“
Mit so viel Liebeswürdigkeit und Verständnis hatte Zada nicht gerechnet. Noch ehe sie sich dessen voll bewusst war, sprudelten die Worte aus ihr heraus. Sie erzählte Carlynn von ihren Ängsten, ihrer Unsicherheit und dem Schweigen der Götter. Manchmal stockte ihre Stimme und sie musste sich erst sammeln, bevor sie fortfahren konnte. In ihren Augen bildeten sich Tränen, doch es gelang ihr, diese zurückzuhalten. Carlynn blickte sie voller Verständnis und Mitgefühl an und ließ sie reden. Erst als sie geendet hatte, nahm sie sie in den Arm. Zada drückte ihr Gesicht an die Brust der älteren Frau und ließ ihren Tränen endlich freien Lauf, während Carlynn Worte des Trosts und Zuspruches sprach.
Wie lange sie so auf der Klippe gesessen hatte, vermochte Zada im Nachhinein nicht zu sagen. Auch von den ermutigenden Worten war ihr wenig Konkretes im Gedächtnis geblieben. Aber als sie die Klippe hinabstiegen, war es ihr, als habe sie einen Großteil ihrer Sorgen dort oben zurückgelassen. Fast unbeschwert redete sie mit Carlynn über die Chancen, die die Reise in ihr Heimatland ihr bot. Vielleicht würde es ihr wirklich gelingen, ihre Eltern zu finden. Wie erleichtert wären diese, ihr Kind nach dreizehn Jahren wiederzusehen.
Auch dass sie keine Antwort auf ihre Gebete erhielt, erschien ihr auf einmal einleuchtend. Sie und ihre beiden Begleiter waren auf dem richtigen Weg, warum sollten die Götter eingreifen?
Als sie Carlynns Haus fast erreicht hatten, nahm diese Zada nochmals in die Arme und richtete eine Bitte an sie: „Bitte versprecht mir, dass Ihr Eure Sorgen von nun ab nicht mehr in Euch verschließt. Öffnet Euch und vertraut sie Mawen und Darija an. Die beiden werden Euch keinesfalls zurückweisen. Schenkt ihnen Euer Vertrauen.“
Zadas Antwort bestand aus einem bloßen Nicken, doch dies schien Carlynn zu genügen.
REISE INS UNGEWISSE
Jahr 3619 Mond 8 Tag 11
Jal
Der Tag der Abfahrt war gekommen. Noch vor dem Morgengrauen hatte sich die kleine Gruppe, bestehend aus den drei Reisenden und Darijas Eltern, auf den Weg zum Hafen gemacht. Von der aufgeregten Geschäftigkeit der letzten Tage war nichts mehr zu spüren, der Abschied lastete schwer auf ihnen. Selbst Mawen, der keineswegs zu Gefühlsausbrüchen neigte, kämpfte mit den Tränen. Er hatte die Zeit in Jal sehr genossen und Darijas Eltern waren trotz der kurzen Zeit gute Freunde geworden. Obgleich die Gespräche nicht den Grad an Gelehrtheit erreichten, den er von der Insel Roteha gewohnt war, so wurde das durch die Herzlichkeit und Liebe im Umgang miteinander mehr als aufgewogen. Er würde die fröhlichen abendlichen Runden vermissen – und Carlynns Kochkünste. Dennoch überwog die Vorfreude über das bevorstehende Abenteuer und die Erkundung eines neuen Landes. Die möglichen Gefahren, die die lange Seefahrt mit sich bringen würde, versuchte er, so gut wie möglich zu verdrängen. Er vertraute auf das seefahrerische Geschick Darijas und den Beistand der Götter.
Er und Zada verabschiedeten sich von Carlynn und Aden und gingen dann gemeinsam an Bord, um Darija die Möglichkeit zu geben, in Ruhe von ihren Eltern Abschied zu nehmen.
So viele Gedanken sie sich vorab auch über den Abschied gemacht hatte, jetzt, da die Zeit gekommen war, wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Ihr Kopf war leer.
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