Welten - Roman
erfahren haben, dass sie mit unangenehmen Fragen zu rechnen haben - von Madame d’Ortolan persönlich.
Eine warme, von Tabakrauch und Dieselauspuffgasen
geschwängerte Brise reißt mich aus meinem Tagtraum zurück in die drängende Realität des Hier und Jetzt.
In der Tat: All diese historischen Dinge sind äußerst interessant, aber im Augenblick zählt vor allem die Kleinigkeit, dass der Konzern mit so ziemlich allen Kräften, die er aufbieten kann, Jagd auf mich macht. Darum sollte ich mich besser kümmern. Darüber hinaus ist Madame d’Ortolan vielleicht schon dabei, den von ihr geplanten Umsturz zu inszenieren. In dieser Hinsicht habe ich bereits alles getan, was in meinen Kräften steht. Ich kann nur hoffen, dass Mrs. M dank meiner Bemühungen rechtzeitig von den Zielpersonen erfahren hat, auf die man mich angesetzt hat, und dass diese gewarnt und in Sicherheit gebracht werden konnten.
Meine gegenwärtige Inkarnation ist mit einem Handy ausgestattet. Ich versuche, meinen neuen Freund Ade anzurufen, der mit einer raffiniert konstruierten Kassette voller Septus unterwegs zu mir ist, aber sein Telefon ist abgeschaltet, und von seinem Büro erfahre ich, dass er weggefahren ist und erst morgen zurückerwartet wird. Ich schaue auf den Zeitmesser an meinem Handgelenk. Der kleinere, aber wichtigere Zeiger deutet auf die Linie gleich links von der vertikalen Markierung. Elf. Adrian hat versprochen, bis vier hier zu sein.
Wir sind im Restaurant Quadri auf der Piazza San Marco verabredet - geschützt vom Strom der Touristen.
Anscheinend bleibt mir nichts anderes übrig, als zu warten.
Nachdem ich gezahlt habe, schlendere ich über den Ponte Scalzi, auf dem ich eine halbe Stunde später auch wieder zurückkomme, weil die elegant geschwungene neue Brücke weiter oben erst in ein oder zwei Wochen eröffnet
wird. Ich spaziere in den Bahnhof und bestelle mir im Café einen weiteren Americano, den ich langsam schlürfe. Ich spüre das Verlangen, die Bahnsteige zu zählen, doch es ist nur schwach und lässt sich leicht ignorieren. Einige Male klingelt das Telefon, und das Display zeigt mir Bilder der Anrufer: Annata, Claudio, Ehno. Ich melde mich nicht.
Ich unternehme weitere Spaziergänge durch das westliche Cannaregio und den näher gelegenen Teil von Santa Croce und lasse mich in mehreren Cafés unweit des Palazzo Chirezzia nieder, um das Durcheinander dort im inneren Blick zu behalten. Ruhig sitze ich da, scheinbar in die Betrachtung der Menschen versunken, während ich in Wirklichkeit wieder in meiner Vergangenheit forsche.
In einem kleinen Touristencafé an der Fondamenta Venier in der Nähe des Ponte Guglie werde ich entdeckt. Ich mache mich auf das Schlimmste gefasst, aber es ist nur jemand, der diesen Körper, dieses Gesicht kennt und sich erkundigt, warum ich heute Nachmittag nicht in der Arbeit bin. Mit verstohlener, verlegener Miene und gesenktem Kopf gebe ich vage Allgemeinheiten von mir. Der Mann nickt zwinkernd und klopft mir auf die Schulter, ehe er sich entfernt. Bestimmt glaubt er, dass ich auf meine Geliebte warte. Ich trinke meinen Zitronentee aus und gehe. Kaffee hatte ich schon genug.
Ich suche mir ein anderes Café an der Rio Terà de la Madalena. Dort bestelle ich einen Spritz und Pasta. Beim Anblick der Spaghetti in der Schüssel versinke ich in einen sonderbaren, tranceartigen Zustand. Zuerst frage ich mich, wie viele einzelne Nudeln es wohl sind, dann, welche Strecke sie aneinandergelegt ergäben. Während ich die blassen, weichen Fäden mit träumerischer Hingabe auf die Gabel drapiere, wird mir bewusst, dass ihre angehäufte
Komplexität ist wie die verschiedenen verschlungenen Themen und Episoden meines Lebens: eine wabernde, furchtbar vertrackte, gewundene und vielleicht sogar verknüpfte Darstellung meiner Realität. Die abgeschnittenen gewellten Fäden starren mir aus dem Teller entgegen wie die Lebensfäden, die ich abgeschnitten habe, und die glitzernde rote Soße ist eine passend blutige Verzierung.
Wie viele Menschenleben? Wie viele Liquidierte und Abgeschnittene, wie viele schlaff Zurückgelassene? Und wie viele Selbstliquidierungen nach einem kurzen Aufenthalt im Kopf und Körper eines anderen, der sogleich wieder unbeschwert weggewischt wurde wie ein Stäubchen am Ärmel. Jeder Auftrag ein Selbstmordkommando, jeder Wechsel ein Sprung vom Leben in den Tod (und wieder zurück; aber trotzdem ein Tod).
Fast ohne es zu merken, drifte ich ab in mein privates Vergangenheitstheater.
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