Welten - Roman
ob es heute Nacht geschehen wird, und der Gewissheit, dass es so ist. Noch vor dem Morgen wird der dunkel gekleidete Mann zu mir kommen.
Tränen steigen mir in die Augen und rinnen sanft über meine Wangen, nur unterbrochen von den verschiedenen Schläuchen, Röhren und Drähten, mit denen ich an den medizinischen Geräten hänge, die still um mich versammelt sind wie Trauernde um einen Toten.
DER WELTENWECHSLER
Kein Wunder, dass ich mein Zeitgefühl verloren habe. Ich sitze in der Nähe des Bahnhofs in einem Café, den Rücken an die Wand gelehnt und beobachte bei einem Americano die vorüberziehenden Boote auf dem Canal Grande. Auf dem breiten Pier wartet eine Schlange von Touristen mit Gepäck auf Wassertaxis. Am Nachbartisch streiten sich zwei Australier darüber, ob es Espresso oder Expresso heißt.
»Mann, da steht’s doch schwarz auf weiß.«
»Das könnte ein Druckfehler sein wie bei diesen chinesischen Gebrauchsanleitungen. Das weiß man nie.«
Ich habe noch immer an meinen neuen Sinnen zu knabbern. Oder an meiner neuen Sensibilität. Fürs Erste habe ich darauf verzichtet, in die Gehirne anderer Leute zu springen, egal, ob Zivilisten oder Konzernangehörige. Anscheinend verfüge ich jetzt auch über eine gewisse Späherwahrnehmung, was recht nützlich ist. Ich kann spüren,
dass die verwirrten, demoralisierten Mitglieder der Interventionseinheiten in der Nähe des Palazzo Chirezzia damit beschäftigt sind, sich zu sammeln, die Verletzten zu versorgen und sich gegenseitig zu entschuldigen. Sie haben immer noch nicht so richtig begriffen, was passiert ist, und warten auf Verstärkung.
Das alles spielt sich nur wenige hundert Meter von mir entfernt ab. Ich bin bereit, sofort zu verschwinden, doch im Moment genügt es mir, sie zu sehen, ohne dass sie mich sehen. Ein weiterer Sinn: Sie wirken wie Taube auf mich, die sich laut unterhalten, ohne es zu merken, während ich hier in aller Stille sitze. Zwar würde ich ungern die Nagelprobe machen, aber irgendwie bin ich mir völlig sicher, dass ein Späher in ein oder zwei Metern Entfernung an mir vorbeigehen könnte, ohne zu erkennen, dass er von einem Springer beobachtet wird. Und natürlich haben sie keine Ahnung, wie ich jetzt aussehe.
Selbst den Glaswandsinn, der mir die Zukunftswege zeigt, habe ich bereits besser in den Griff bekommen. Im Moment sagt er mir, dass mir nichts unmittelbar Bedrohliches bevorsteht. Doch es ist auch möglich zurückzublicken. Ich schaue gleichsam durch Korridore in meinem Gedächtnis, und in jedem gibt es eine nahezu unendliche Zahl von mir zugewandten Türen, durch die ich, wenn ich nahe heranzoome, erkennen kann, was bei einzelnen Sprüngen geschehen ist, die ich einmal gemacht habe. Ich bin mir nicht sicher, ob es viele Korridore sind oder nur einer, auf jeden Fall habe ich den unheimlichen Eindruck, dass er sich in verschiedenste vertikale und horizontale Richtungen, aber auch in Dimensionen verzweigt, für die ich keinen Namen habe. Trotzdem scheint mein Verstand in der Lage, das Wahrgenommene zu verarbeiten.
Hier ist der Zeitpunkt vor einer Stunde, da ich am Palazzo Chirezzia nicht nur eine vielseitig und mit erfahrenen Kräften besetzte Interventionseinheit des Konzerns außer Gefecht setzte, sondern sogar zwei (eigentlich fast drei, wenn man die Beobachtungsposten mitrechnet).
Hier ist der Zeitpunkt, da ich zusammen mit einer Frau in einem Zimmer saß, die ich zu lieben glaubte und die ich gebannt beobachtete, als sie die Hand durch eine Kerzenflamme bewegte wie durch Seide.
Da jage ich zwei verkorksten jungen Kerlen in einem Pariser Vorort nach und sehe zu, wie sie sterben … und noch einmal, aber anders.
Hier blase ich diesem Musiker das Gehirn aus dem Schädel, während er in seinem lächerlich auffrisierten Halbkettenfahrzeug sitzt.
Noch einmal erlebe ich, wie ich einen jungen Mann vor dem sicheren Tod bewahre.
Und das bin ich, wie ich an einem heißen Tag vor langer Zeit mit meinen Freunden vor dem briefmarkengroßen Vorgarten eines alten Knackers stehen bleibe, der gerade ein Sonnenbad nimmt.
So sitze ich und amüsiere mich königlich über meine innere Diavorführung.
Mein Americano ist kalt geworden. Nach wie vor schäumt der Canal Grande von vorbeiziehenden Booten. Die streitenden Australier sind verschwunden. Am Palazzo Chirezzia herrscht noch immer Verwirrung, in die sich ein Gefühl verletzter Berufsehre mischt. Und ein wenig Furcht, weil sie von den ersten eingetroffenen Verstärkungskräften
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