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Welten - Roman

Titel: Welten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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wird der Finger herausgerissen. Ich wälze mich auf den Rücken und erhasche einen Blick auf den Angreifer, der den Stuhl umwirft und hektisch zur Tür rast.
    Ich erkenne ihn. Es ist der Pfleger aus dem Erdgeschoss, der immer pfeift. Seine Uniform hat er mit dem Morgenmantel eines Patienten getarnt. Mit gesenktem Kopf und eingezogenen Schultern flüchtet er hinaus auf den Gang. Ich höre, wie die diensthabende Schwester etwas sagt und dann ruft. Krachend fällt meine Tür ins Schloss.
    Draußen poltern Schritte, aber ich liege flach auf dem Rücken und es interessiert mich kaum noch, so heftig ist das Tosen in meiner Brust und die Empfindung, dass mir ein zehn Tonnen schwerer Riese mit dem Knie alles Leben aus dem Leib quetscht. Immer enger zieht sich das Band um die Brust zusammen, und der Schmerz nimmt zu. Das
Letzte, was ich wahrnehme, ist die Schwester, die hereinkommt und nach einem Blick auf mich sofort davonstürzt. Ist das die Reaktion einer erfahrenen Pflegekraft? Ich bin mir nicht sicher, aber irgendwie scheint es keine Rolle mehr zu spielen. Das Einzige, was noch zählt, ist diese alles zermalmende Vernichtungsqual.
    Ein Alarm schrillt, doch ich höre ihn kaum noch in der gewaltigen Stille, die sich auf mich herabsenkt wie eine tintenschwarze Wolkendecke, aus der es Schmerzen regnet. Dann knallen Türen, und jemand fängt an, auf meine Brust einzuprügeln. Als hätte ich in dieser Nacht noch nicht genug ausgestanden.
    Ich will protestieren, als sie mein Schlafanzugoberteil aufreißen. Bitte: Leidenschaft, etwas gemeinsam Ersehntes, nicht etwas Erzwungenes, nicht das. Falsch. Sie legt mir den Kopf zurück, setzt die Lippen auf meine und bläst mir mit einem Kuss Luft in den Mund. Ich rieche ihr Parfüm. Ach, diese alte Lieblichkeit. Das wird mir fehlen. Aber trotzdem unerwünscht, trotzdem eine Art Vergewaltigung. Außerdem hat sie Knoblauch gegessen. Wieder Prügeln und Klopfen gegen den stillen Hohlraum in meiner Brust.
    Trotz des Hämmerns und Schlagens und der regelmäßigen Küsse, die das von Rippen umspannte Nichts auffüllen wollen, dämmere ich weg. Dann Stimmen und Lichter und ein Gefühl von Gedränge. Nur hereinspaziert! In meiner hohlen Brust und meinem zunehmend leeren Bewusstsein ist genügend Platz für alle. Fühlt euch wie zu Hause, meine Gäste. Ein bisschen Zeit habe ich noch.
    Plötzlich zerren mich Stahltaue nach beiden Seiten auseinander, zupfen an mir wie an einer fleischigen, vibrierenden Saite, zwingen mich, mit gebeugtem Rücken hochzufahren, bis jeder Nerv und jede Faser meines Wesens
aufjaulen, dann lassen sie mich los, und ich sinke erleichtert zurück aufs Bett.
    Etwas setzt wieder ein, und eine Regelmäßigkeit kehrt zurück wie bei einem abgewürgten Motor, der stotternd anspringt. Ich denke. Glaube ich. Immer noch dümple ich wie ein Boot am Kai, das nur an einer Leine hängt und von den Launen der Gezeiten, Strömungen und Winde hin und her geschüttelt wird. Es bräuchte keinen besonders festen Riss, um mich ganz von diesem Liegeplatz zu trennen. Aber ich habe Glück, und es geschieht nicht.
    Als ich in eine warme Nebelbank treibe, die mich mit einem Schleier des Friedens umfängt, stoße ich gegen den Kai und werde festgemacht.
    Und so liege ich wieder hier in meinem Zimmer und Bett, nachdem man mich ins Leben zurückgeholt hat. Ich bin dankbar, aber auch voller Angst, denn ich glaube zu ahnen, was als Nächstes geschieht. Ich kann nicht weg. Nach allem, was passiert ist, bin ich zu erschöpft, zu schwach, zu sediert, zu angeschlagen, um aufstehen und verschwinden, oder mich auch nur hinsetzen und um etwas bitten zu können. Ich versuche, den Pflegern mitzuteilen, was ich befürchte, was ich vorhergesehen habe, aber die Worte sind mir abhandengekommen. Im Kopf formuliere ich die Sätze und könnte sie in meiner Sprache gewiss auch laut und gut verständlich vorbringen, doch das versteht hier niemand. Und die Übersetzung in die Sprache, die hier geredet wird von Pflegern und Ärzten, Reinigungskräften und Patienten … diese Fähigkeit habe ich irgendwie verloren. Was ich auch sagen will, es kommt wieder nur Kauderwelsch über meine Lippen, außerdem spreche ich so leise, dass sie die Worte kaum erfassen könnten, selbst wenn ich sie mit vorbildlicher Klarheit artikulieren würde.

    So beobachte ich hier im Bett liegend die nebelhaft langsame Bahn der Sonne über den Himmel und die schützenden Jalousien davor und warte, warte auf die Dunkelheit, erfüllt von der Frage,

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