Welten - Roman
höchster Ebene an dieser Führung teilhat.«
»Wirklich?« Hier muss ich eine Erklärung einflechten, was die politischen Machtverhältnisse im Zentralrat angeht. Lord H ist ein ehemaliger Zauderer, inzwischen aber ein treuer Gefolgsmann Madame d’Ortolans, der von ihr angewiesen wurde, sich zum Schein immer mehr von ihr und ihren Intrigen zu distanzieren und die Stimme gegen sie zu erheben, um auf diese Weise vielleicht andere Ratsmitglieder aus der Reserve zu locken, die sich gegen die Pläne der Lady stellen wollen. Er sollte ihre Kontrahenten ausspionieren. Doch bislang sind seine Bemühungen erfolglos geblieben, und so fürchtet er, zwischen die Fronten
geraten zu sein und Gefahr zu laufen, unter die Räder zu kommen, gleich, wie er sich auch entscheidet.
»Ja, in der Tat.« Noch immer schweift sein Blick vorsichtig durch den stillen, holzgetäfelten Saal mit der hohen Decke. »Ich hätte eher gedacht, wenn ihr zu Ohren kommen sollte, dass ich ihr … dass ich unsere … herrschende Strategie … mit Zweifeln betrachte, wird sie mir als unversöhnliche Widersacherin begegnen und nicht als besorgte Beschützerin.«
Ich breite die Hände aus. (Kurz versteigt sich mein Gehirn zu der unangemessenen Deutung, dass die Hände in zwei verschiedene Realitäten eintauchen. Innerlich muss ich das Äquivalent eines starken Kopfschüttelns absolvieren, um diese Empfindung zu verscheuchen. Mein Bewusstsein befindet sich in diesem Augenblick tatsächlich an mindestens zwei verschiedenen Orten, und das erfordert selbst bei meiner außerordentlichen Begabung und der sehr speziellen Ausbildung, die ich genossen habe, höchste Konzentration.) »Oh, sie ist durchaus versöhnlich«, werfe ich hin. »Um die Gesinnung der Lady ist es nicht ganz so bestellt, wie Sie vielleicht annehmen.«
Lord Harmyle mustert mich forschend. Möglicherweise ist er sich nicht ganz sicher, ob ich mich über ihn lustig machen will.
Ich klopfe mir auf den Gehrock (ich bin wirklich abgelenkt, aber ich reiße mich zusammen). »Glauben Sie, ich könnte mir ein Taschentuch borgen? Wenn ich mich nicht täusche, muss ich gleich niesen.«
Harmlye runzelt die Stirn. Flüchtig streift sein Blick seine Brusttasche, aus der ein makellos weißes Stoffdreieck lugt. »Ich frage einen Kellner.« Damit wendet er sich zur Seite.
Diese halbe Drehung genügt mir. Mit einem blitzschnellen
Schritt nach vorn erhebe ich mich, und während er wieder zu mir herumwirbelt - ein erster Funke der Furcht in den noch nicht aufgerissenen Augen -, schlitze ich ihm mit dem hübschen Stilett aus venezianischem Muranoglas, das ich vor kaum zehn Minuten auf der Bund Street erworben und im rechten Ärmel verborgen habe, von einem Ohr zum anderen die Kehle auf.
Die Alabasterblässe des Lords war trügerisch; tatsächlich fließt reichlich Blut in seinen Adern. Um ganz sicher zu sein, ramme ich ihm das Stilett direkt in den Solarplexus.
An dieser Stelle muss ich darauf hinweisen, dass ich nicht gelogen habe. Wie bereits erwähnt, gehöre ich der Sicherheitsabteilung an (aus der ich mich allerdings wohl soeben auf kreative Weise verabschiedet habe). Doch der besagten Abteilung geht es nicht um die Sicherheit von Einzelpersonen, sondern um die Sicherheit des Konzerns. Solche Unterscheidungen sind wichtig, wenn auch nicht unbedingt in diesem Fall.
Gewandt weiche ich Lord Harmyle aus, der mit absoluter und beinahe schon komischer Erfolglosigkeit bemüht ist, die hellrot aus seinen zerfetzten Arterien sprudelnden und spritzenden Blutblasen aufzuhalten, während er gleichzeitig versucht, durch die aufgerissene Luftröhre keuchend seine letzten gurgelnden Atemzüge zu holen oder - wer weiß? - Worte zu krächzen (anscheinend hat er gar nicht bemerkt, dass ein bleistiftdünnes Messer aus seiner Brust ragt, aber vielleicht setzt er auch nur Prioritäten), und plötzlich muss ich laut niesen, als wäre ich allergisch gegen Blutgeruch.
Und das wäre in meinem Beruf wirklich ein Handikap.
VIER
PATIENT 8262
Heute Morgen setzte sich ein Vögelchen auf mein Fensterbrett. Zuerst hörte ich es, dann schlug ich die Augen auf und sah es. Es ist ein schöner klarer Spätfrühlingstag, und es riecht nach dem Regen der vergangenen Nacht auf neuen Blättern. Der Vogel war vom Schnabel bis zum Schwanz kleiner als meine Hand, überwiegend in zwei verschiedenen Brauntönen gesprenkelt, der Schnabel gelb, die Beine schwarz, weiße Flecken an den vorderen Flügelrändern. Er landete mit dem Gesicht zu mir,
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