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Welten - Roman

Titel: Welten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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dann wandte er sich hüpfend um, um jederzeit abheben zu können. Schließlich drehte er den ruckenden Kopf nach hinten, und sein funkelndes schwarzes Auge beobachtete mich.
    Als draußen auf dem Gang jemand an meiner offenen Zimmertür vorbeischlurfte, flog der Vogel weg. Zuerst verschwand er nach unten, dann tauchte er wieder auf, jagte mehrmals flach hin und her und flatterte mehrere Sekunden lang heftig, um nach oben zu gelangen; schließlich legte er die Flügel so eng an, dass er einer kleinen Federkugel glich, um wie eine unaufhaltsam von der Erde angezogene Granate in die Tiefe zu stürzen, ehe er die Flügel wieder ausbreitete und geschäftig bewegte, um erneut an Höhe zu gewinnen. Vor dem hellen grünen Schimmern der Bäume verlor ich ihn aus den Augen.
    Wir bewegen uns in unendlich vielen Unendlichkeiten, mit jedem flüchtigen Gedanken und jeder unbewussten Handlung gestalten wir unser Leben und erschließen uns einen ständig wechselnden Weg durch die Myriaden von
Möglichkeiten der Existenz. Ich liege hier und grüble über die Ereignisse und Entscheidungen, die mich hierhergeführt haben, über die genaue Abfolge von Überlegungen und Handlungen, die - fürs Erste - damit endete, dass ich nichts Konstruktiveres und Dringenderes zu tun habe, als eben über diese Eventualitäten nachzusinnen. Noch nie hatte ich so viel Zeit zum Nachdenken. Das Bett, das Zimmer, die Klinik, das Umfeld: sie alle bilden die ideale Voraussetzung zum Nachdenken. Sie strahlen Ruhe aus, das Gefühl von Dingen, die unverändert bleiben, aber zuverlässig instand gehalten werden, ohne Verfall oder sichtbare Entropie. Ich kann frei meinen Gedanken nachhängen, ohne dem Untergang preisgegeben zu sein.
    In Detroit habe ich Flipper gespielt, in Yokohama Pachinko, in Taschkent Tivoli. Alle drei Spiele fand ich fesselnd und war fasziniert von der Zufälligkeit, die aus der hochstrukturierten und genau eingestellten Maschinerie mit ihren hin und her geschleuderten Stahlkugeln hervorging und letztlich immer der Schwerkraft zum Sieg verhalf. Der Vergleich mit unserem Leben erscheint naheliegend und eröffnet uns eine Ahnung dessen, was uns unserem Schicksal entgegentreibt. Sicher ist es nur eine Ahnung, da wir in ein ungleich komplizierteres Umfeld eingebettet sind als die klickenden, springenden Bälle und die Bolzen, Banden, Böcke und Barrikaden, mit denen sie zusammenstoßen. Unsere Bahn gleicht eher der eines Partikels in einer Räucherkammer, der der Brown’schen Molekularbewegung unterworfen ist, und zumindest dem Namen nach verfügen wir über einen freien Willen. Dennoch können wir mit diesem reduzierenden und vereinfachenden Vergleich etwas erfassen, was sich sonst aufgrund seiner Unüberschaubarkeit unserem Verständnis völlig entziehen würde.

    Ich war ein Reisender, ein Problemlöser des Konzerns. Ich war das, was ich aus mir machte, was andere durch ihre Anleitung aus mir machten, was das Leben aus mir machte. So streifte ich durch die vielen Welten, immer an vorderster Front der stets sich verändernden und verzweigenden Existenz, in einem unaufhörlichen Tanz durch die Spektren aus Plausibel/Unplausibel, Hermetisch/Verbunden, Banal/Bizarr, Freundlich/Feindlich, und in jeder Weise, die wir zur Beurteilung, Bewertung und Einstufung einer Welt oder Gruppe von Welten erarbeitet hatten. (Die Welt hier ist plausibel, hermetisch, banal und freundlich. Deine ist genauso, nur etwas näher am feindlichen Bereich des betreffenden Spektrums. Viel näher. Zu deinem Pech ist Eva deine älteste Vorfahrin, und ich vermute, dass sie kein besonders netter Mensch war. Vielleicht sind die Vulkane daran schuld.)
    Natürlich kann ich das niemandem hier erzählen, auch wenn ich schon mit der Absicht gespielt habe. Ich könnte in meiner Muttersprache mit ihnen reden oder sogar auf Englisch oder Französisch, meinen erlernten Einsatzsprachen, und höchstwahrscheinlich würde hier niemand auch nur ein einziges Wort davon begreifen. Trotzdem wäre es albern. Es wäre eine Schwäche, und ich glaube nicht, dass ich mir auch nur die kleinste Schwäche erlauben kann. Bisher habe ich sogar gezögert, überhaupt an mein früheres Leben zu denken, das mir heute fast wie ein Aberglaube erscheint.
    Irgendwann werde ich wohl damit anfangen müssen.
    Ich wünschte, das Vögelchen käme zurück.

ADRIAN
    Vermutlich war Mr. Noyce so eine Art Vaterfigur für mich. Er war ein anständiger Kerl, was gibt es sonst zu sagen? Alter Geldadel und daher eine

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