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Welten - Roman

Titel: Welten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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verdichteten Faden in einer Unendlichkeit von Möglichkeiten nachzujagen, wie ein Blitz, der im Zickzack durch eine Wolke zuckt, um sein Ziel zu finden). Ich sitze vor einem anderen Straßencafé im vierten Arrondissement und schaue über einen Arm der Seine auf die Île St. Louis, während ich in die Trance verfalle, die mich genau an den richtigen Ort und zu der richtigen Person führen wird. Unterdessen habe ich Zeit zum Überlegen, zum Prüfen, zum Bewerten.
    Mein Treffen mit Madame d’Ortolan ist äußerst unbefriedigend verlaufen. Mit schiefer Miene saß sie in der Nische, und das Tischtuch hing auf einer Seite doppelt so weit herunter wie auf der anderen. Um diese Unstimmigkeit wenigstens ein bisschen zu kompensieren, wackelte ich mit dem Bein auf und ab, aber das half so gut wie gar nicht. Und dann behandelt sie mich auch noch wie einen Idioten! Selbstgefällige alte Schachtel.
    »Plyte, Jésusdottir, Krijk, Hertzloft-Beiderkern, Obliq, Mulverhill«, leiere ich herunter, um mir die Namen einzuprägen. Ein Kellner, der am Nachbartisch Kleingeld aufsammelt, dreht sich um und wirft mir einen merkwürdigen Blick zu. »Plyte, Jésusdottir, Krijk, Hertzloft-Beiderkern, Obliq, Mulverhill.« Ich lächle ihm zu. Theoretisch ein Sicherheitsrisiko, aber was macht das schon. In dieser Welt sind das bloß unsinnige Silben. Unverständlich für jeden, der nur diese oder überhaupt nur eine einzige Realität kennt.
    In meinem Brustbeutel liegt das Aluminiumröhrchen.
Unter anderem enthält es ein winziges mechanisches Einmal-Lesegerät. Die Vorrichtung sieht aus wie zwei Minimaßbänder, dazwischen ein kurzes diaartiges Verbindungsstück mit Glasfenster. Eine der Spulen hat einen Griff. Wenn man daran zieht, wird sie gespannt und setzt sich in Bewegung, um den Papierstreifen aus der anderen Spule an dem Fensterchen vorbeizuziehen. Dann muss man sehr genau aufpassen. Man kann jeweils ungefähr ein Dutzend Buchstaben lesen, bevor sie in der anderen Spule verschwinden, wo das speziell behandelte Papier mit Luft in Berührung kommt und zu Staub zerfällt. Danach ist die Botschaft für immer verschwunden. Einmal in Gang gesetzt, lässt sich der Aufziehmechanismus nicht mehr stoppen, daher darf man in seiner Aufmerksamkeit nicht nachlassen. Wenn man einen Teil der Nachricht verpasst, tja, dann sitzt man in der Klemme. In so einem Fall wird man nicht umhinkönnen, die Instruktionen erneut anzufordern. Und das kommt gar nicht gut an.
    Ich las meine Befehle auf der Toilette. Weil es nicht besonders hell war, leuchtete ich mir mit einer Taschenlampe. Wenn man die höchst unvorschriftsmäßigen Änderungen an den Anordnungen dazunahm, hatte es den Anschein, dass hier wohl einige Eliminierungen, wie es im Fachjargon heißt, auf der Tagesordnung standen. Ziemlich viele Eliminierungen sogar. Interessant.
    Ein Niesen, und als ich die Augen wieder aufschlage, bin ich ein adretter Herr in einem Gehrock mit Hut, Stock und grauen Handschuhen. Meine Haut ist eine Spur dunkler. Eine kurze Prüfung ergibt, dass Mandarin wieder verfügbar und Farsi meine dritte Sprache nach Französisch und Englisch ist. Danach Deutsch und Bruchstücke von mindestens zwanzig weiteren. Eine weitverzweigte Welt.

    Paris hat sich erneut verändert. Quer durch die Île St. Louis verläuft ein Kanal, die Straße ist voll von bunt gekleideten Husaren auf trappelnden, den Kopf zurückwerfenden Pferden. Einige Passanten sind stehen geblieben, um das Spektakel zu bewundern und höflich zu beklatschen. Alles riecht nach Dampf. In der Hoffnung auf Luftschiffe hebe ich den Blick. Für Luftschiffe habe ich eine besondere Schwäche, doch im Moment kann ich keine entdecken.
    Ich lasse den Reitertrupp vorbei, dann winke ich ein schnittiges Dampftaxi herbei, um zur Gare Waterloo und zum TGV nach England zu gelangen. »Plyte, Jésusdottir, Krijk, Hertzloft-Beiderkern, Obliq, Mulverhill«, leiere ich erneut und blinzle dem Fahrer zu, als ich seine verständnislose Miene bemerke. In der Polsterverkleidung des Fahrgastraums befindet sich ein Spiegel, der mir meine gepflegte Erscheinung zeigt: äußerst präziser Haarschnitt, eleganter kleiner Kinnbart, doch ansonsten unauffällig wie üblich. Das Taxi hat die Nummer 9034. Diese Ziffern ergeben die Quersumme sechzehn, die sich wiederum zu sieben addieren lässt, und das ist, wie jeder Narr weiß, dem Herkommen nach die glücklichste aller Glückszahlen. Ich zupfe an meinen Hemdmanschetten, bis sie exakt gleich weit aus den Ärmeln

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