Welten - Roman
nach vorn, wie es mir die Fesseln gestatten, das Kinn fast an der Brust und den Blick ganz natürlich auf den Schoß gerichtet. Ich bin nackt. Meine hell beleuchteten Schenkel sind blutbefleckt. Allmählich werde ich munterer und kämpfe mich zurück ins Bewusstsein wie ein völlig durchtränktes Holzstück, das träge an die Oberfläche eines kalten Bachs treibt. Nach einer ersten flüchtigen Bestandsaufnahme meiner Lage
spanne ich - ohne dass dies nach außen sichtbar wäre - vorsichtig die entsprechenden Muskelgruppen an, um zu prüfen, wie fest ich an den Stuhl gebunden bin. Plötzlich höre ich die Stimme eines Mannes: »Spar dir die Mühe, Temudschin, wir sehen doch, dass du wach bist. Auch die Drähte und den Stuhl brauchst du nicht lang testen. Hier kommst du nicht weg. Wir wissen genau, was du machen wirst, weil wir dich ausgebildet haben.«
Ich überlege kurz. Offenbar können meine Entführer ganz genau abschätzen, welches Verhalten sie unter diesen Umständen von mir zu erwarten haben. Außerdem behaupten sie, dass sie meine Leute sind oder zumindest an meiner Ausbildung beteiligt waren. Der Mann, der das Wort an mich gerichtet hat, scheint sich seiner Sache sehr sicher.
Ich hebe den Kopf und starre in die Dunkelheit zwischen zwei einige Meter entfernten Lampen, die auf mich gerichtet sind. Möglichst flüssig antworte ich: »Wir wissen genau, was du tun wirst, weil wir dich ausgebildet haben.«
Ich erwarte ein »Was?« oder ein »Häh?«, aber er zögert nur kurz. »Wenn du meinst. Auf jeden Fall werden wir in jeder Phase wissen, was du vorhast. Du ersparst uns viel Zeit und dir unnötige Schmerzen, wenn du auf die üblichen Tricks verzichtest.«
Eine unheilvolle Phrase. »In jeder Phase wovon?«, wäre die naheliegende Gegenfrage. Hinter den Lampen kann ich nichts erkennen. Neben den beiden vorn erkenne ich zwei weitere etwa auf Höhe meiner Schultern, und aus den Schatten unter meinem Stuhl schließe ich, dass sich hinter mir noch einmal zwei befinden. Ich bin gefangen in einem Lichtkreis. Die Stimme, die mit mir spricht, gehört einem Mann, und ich kenne sie nicht. Es könnte die des breitschultrigen Kerls aus dem Flugzeug sein, der mich
niedergeschlagen hat, aber ich weiß es nicht. Soweit ich es ausmachen kann, kommt die Stimme von direkt hinter mir. Nach ihrem Klang zu urteilen, befinde ich mich in einem großen Raum. Ich rieche nichts außer mein eigenes Blut: ein scharfes, metallisches Aroma. Das Fragre des Ortes, das Leute wie ich dank ihres zusätzlichen Sinnes wahrnehmen können, deutet auf eine Welt, die ich noch nie besucht habe, und vermittelt mir einen Eindruck von Ungereimtheit, von widerstreitenden und miteinander konkurrierenden historischen und kulturellen Begebenheiten. Ich prüfe meine Sprachen. Englisch. Sonst nichts.
Das ist beispiellos. Nicht einmal die Sprache aus der Basisrealität spreche ich, in der mein ursprüngliches Selbst einsilbig und mit toten Augen durch ein föhrenumwachsenes Haus hoch oben auf einem Hügel mit Blick auf einen Ort mit Kasino streift.
Zum ersten Mal empfinde ich Angst.
»In jeder Phase des Verhörs«, bemerkt die Stimme des Mannes wie als Antwort auf meinen Gedanken.
»Verhör?« Selbst in meinen eigenen Ohren klingt es, als hätte ich eine schwere Erkältung. Ich versuche, etwas von dem getrockneten Blut in meiner Nase hochzuziehen, doch das Einzige, was ich damit erreiche, ist ein Gefühl, als hätte mir gerade jemand einen großen Metalldorn ins Gesicht gerammt.
»Ein Verhör«, bekräftigt der Mann. »Um festzustellen, was du weißt oder zu wissen glaubst. Um aufzudecken, von wem du Anweisungen erhältst oder von wem du Anweisungen zu erhalten glaubst. Um herauszufinden, was du da eigentlich treibst …«
»Oder was ich zu treiben glaube«, werfe ich ein. Schweigen. Ich zucke die Achseln. »Ich dachte, das ist das Muster.«
»Ja.« Er klingt müde. »Nur zu, mach dich lustig über den Vernehmenden. Wenn du erst mal auf die Probe gestellt wirst, wird dein Sturz umso tiefer und deine Kooperationsbereitschaft umso vollständiger sein. Wie gesagt, Temudschin, wir wissen genau, wie du reagierst.«
Ich lasse den Kopf sinken, bis ich die Blutflecken auf meinen Schenkeln sehe. »Ah, die unendliche Feigheit des Folterers.«
»Was?« Er hat mein leises Knurren nicht verstanden.
Ich hebe den Blick und lege möglichst großen Überdruss in meine Stimme. »Wie leicht es ist, selbstsicher und dominant aufzutreten, wenn die Person, mit der man
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