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Welten - Roman

Titel: Welten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Grabmauer eine Lilie zu nehmen. Sie reichte mir die Blume. Bevor ich meine Dankbarkeit bekunden konnte, sagte sie: »Entfernen Sie bitte die Stamina.« Als sie meine verwirrte Miene sah, deutete sie auf die Blüte der Pflanze. »Die Staubgefäße. Die Stücke mit dem orangefarbenen Pollen. Können Sie die bitte herauspflücken? Ich würde es selbst machen, aber die Finger an diesem Körper sind so … plump.«
    Madame d’Ortolan bewohnte den Körper einer Dame mittleren Alters mit goldbraunem Haar und hoher, kräftiger Gestalt. Sie trug ein zweiteiliges rosa Kostüm mit violettem Saum und eine weiße Seidenbluse. Ihre Finger wirkten tatsächlich etwas dick. Behutsam fasste ich in den Blütenkelch, um die pollenbeladenen Enden nicht zu berühren. Madame d’Ortolan beugte sich vor, um alles genau zu beobachten. »Vorsicht.«
    Ich entfernte die Staubgefäße. Zwei meiner Fingerspitzen waren orange gefärbt. Dann überreichte ich ihr die Blume. Mit zwei langen Fingernägeln brach sie den Stiel ab und steckte sich die Blume in ein Knopfloch.
    »Mrs. Mulverhill war schon vieles im Konzern«, stellte sie fest. » Unwache Helferin, Organisatorin, Spezialistin für Theaterlogistik, Weltenwechslerin, Dozentin - wie von Ihnen schon erwähnt -, Theoretikerin an der Fakultät für Transitionswissenschaften und nun plötzlich Verräterin.«
    Nein, dachte ich, eine Verräterin war sie schon immer.
     
    »Was machen wir deiner Meinung nach, Temudschin?« Sanft strich sie mir mit der Hand über den Bauch.

    »Mein Gott«, ächzte ich, »ist das vielleicht ein getarntes Seminar?«
    Sie zupfte an einem der hellbraunen Haare, die in einer schmalen Linie unter meinem Nabel wuchsen. Ich sog die Luft durch die Zähne ein und klatschte ihr auf die Hand.
    »Ja.« Sie zog eine dunkle Augenbraue hoch. »Beantworte bitte die Frage.«
    »Na schön.« Ich streichelte die streichelnde Hand. »Wir sind Problemlöser.« Ich sprach ganz ruhig. Das Zimmer war in Schatten getaucht, nur beleuchtet von der Glut eines fast erloschenen Feuers und einer letzten noch brennenden Kerze. Allein unsere Stimmen und das leise Flüstern des Regens auf einem schrägen Deckenfenster waren zu hören. »Wenn was kaputtgeht, reparieren wir es.« Ich versuchte zu paraphrasieren, ohne offen zu wiederholen, was sie mir und all ihren anderen Studenten beigebracht hatte. »Oder wir sorgen dafür, dass es gar nicht erst kaputtgeht.«
    »Aber warum?« Sie strich die Haare auf meinem Bauch glatt.
    »Warum nicht?«
    »Ja, aber warum? Warum tun wir das?« Sie befeuchtete die Handfläche mit Speichel, um die Haare flach nach unten zu drücken.
    »Weil es die Sache wert ist«, antwortete ich. »Weil wir das Gefühl haben, dass wir damit was erreichen.«
    »Aber warum ist es, abgesehen von allem anderen, die Sache wert, wenn wir doch nur so wenige sind und es unendlich viele Welten gibt?« Sie kraulte mir den Bauch, als wäre er ein Hündchen, und tätschelte ihn sanft.
    »Weil es vielleicht auch unendlich viele Leute wie uns gibt, eine unendliche Zahl von Konzernen; wir sind ihnen nur noch nicht begegnet.«

    »Doch je weiter wir expandieren, ohne Leuten wie uns zu begegnen, desto unwahrscheinlicher wird es, dass so etwas passiert.«
    »Na ja, so ist es eben mit der Unendlichkeit.«
    »Fein.« Mit einem Finger zeichnete sie einen Kreis um meinen Nabel. »Allerdings hast du ein paar Punkte ausgelassen. Davor hättest du noch erwähnen müssen, dass es sich immer lohnt, etwas Gutes zu tun, statt einfach nichts zu tun, weil es so unbedeutend scheint.«
    »›Sinnlosigkeit ist selbstverschuldet.‹«
    »Ah, dann hast du also doch nicht geschlafen.« Sie umfasste meine Eier und begann, sie mit einer unendlich weichen, beharrlichen Kraulbewegung zu massieren.
    »Bei dir war ich schon immer aufmerksam.« Die Stunden hier in ihrer Datscha waren sehr angenehm, wenn auch etwas anstrengend gewesen. Eigentlich hatte ich geglaubt, ans Ende unserer abendlichen Vergnügungen gelangt zu sein, aber vielleicht hatte ich mich getäuscht; unter der Liebkosung ihrer Hand spürte ich wieder die ersten Regungen.
    »Das Raum-Zeit-Gefüge hat eine feste Beschaffenheit«, erklärte sie. »Ab einer bestimmten Größenordnung gibt es keine weiter teilbare Glätte mehr, sondern nur noch individuelle, irreduzible Quanten einer Realität, die in kontinuierlicher submikroskopischer Schöpfung und Zerstörung brodelt. Ich bin überzeugt, dass auch die Moral eine ähnlich irreduzible Konsistenz besitzt, eine

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