Welten - Roman
mittelfristiger Nutzen beobachten lässt, weil sie davon überzeugt sind, dass sich im Lauf der Zeit stets etwas wahrhaft Gutes einstellen wird. So war es immer, und man hat ihnen beigebracht, nichts anderes zu erwarten, daher setzen sie als selbstverständlich voraus, dass es so ist. Und so tun sie weniger, als sie glauben, und mehr, als sie wissen. Falls meine Hypothese zutrifft, handelt es sich um einen erstaunlichen Trick, der Menschen, die sich für pragmatisch, ja utilitaristisch halten, Symptome von Fanatismus entlockt.«
Als ich sie zum ersten Mal sah, saß sie auf einer Steinbrüstung, ein schlankes, in einer Hose steckendes Bein ausgestreckt, das andere angezogen, das Gesicht und den Oberkörper auf eine Seite geneigt, während sie mit mehreren Männern sprach, die sie fast ganz verdeckten. Sie hielt ein Glas und lachte, als sie die andere Hand einem großgewachsenen Mann entgegenstreckte, der ebenfalls lachend neben ihr stand. Obwohl sie schlank und zierlich
war - und fast hilflos mit dem Rücken zum Abgrund hinter der Terrasse saß -, schien sie die Gruppe wie selbstverständlich zu dominieren.
Es war eigentlich keine Terrasse, sondern ein breiter Balkon am Hauptgebäude der Fakultät für Transitionswissenschaften, das am Rand des Zentrums von Aspherje lag. Die Aussicht führte den Blick über ein herrlich abgestuftes Tal zu den bewaldeten Wellen des Großen Parks auf der anderen Seite und dann, jenseits der äußeren Bezirke der Stadt, zu den durch die flachen Strahlen der Abendsonne nur nebelhaft erkennbaren Ausläufern vor den immer noch schneehellen Gipfeln des Massivs. Wie sich später herausstellte, konnte man an klaren Tagen von ihrer Datscha in den Bergen die Nebelkuppel der Universität erkennen, wenn man sich die Mühe machte, vom Dach aus über die Baumwipfel zu spähen.
An dem Abend, als wir uns zum ersten Mal begegneten, wusste ich das natürlich noch nicht. Es war kurz vor Sonnenuntergang, die goldbesetzte Kuppel glänzte wie eine zweite Sonne, und alles - die hellen Steine des Gebäudes und die Lehrer und Studenten mit ihren verschiedenen Hauttönen - war in rötliches Seidenlicht getaucht. Sie trug eine lange Jacke und eine hochgeschlossene, den Busen betonende Rüschenbluse.
»… wie eine unendliche Gruppe von Elektronenhüllen«, sagte sie gerade zu einem der Akademiker, als ich mich näherte. »Obwohl die Gruppe unendlich bleibt, gibt es dazwischen messbare, vorstellbare und zahllose Räume, die nicht besetzt werden können.«
Sie reichte mir die Hand, als wir miteinander bekanntgemacht wurden. »Mr. … Oh? « Eine Augenbraue zuckte in die Höhe. Auf ihrem Kopf saß eine weiße Haube mit
Schleier, was ziemlich affektiert wirkte, obwohl der Stoff leicht wie Gaze war und ihr Gesicht frei ließ. Dieses Gesicht war durchaus schön zu nennen: breit und nach unten spitz mit großen, verschleierten Augen, einer stolzen Nase, dramatisch bebenden Nüstern und einem kleinen, vollen Mund. Ihr Ausdruck war schwerer zu ergründen. Man hätte charmant lässige Grausamkeit oder nur amüsierte Gleichgültigkeit hineinlesen können. Sie war ungefähr eineinhalbmal so alt wie ich.
»Ja«, erwiderte ich, »Temudschin Oh.« Ich spürte, wie meine Wangen warm wurden. Ich hatte mich schon längst daran gewöhnt, dass mein mongolischer Nachname Heiterkeit bei Menschen aus dem Westen auslösen konnte, die entschlossen waren, jeden aus der Fassung zu bringen, dessen Name nicht so banal und hässlich war wie ihrer. Aber etwas an der Art, wie sie ihn aussprach, ließ mich sofort erröten. Ich hoffte, dass der Sonnenuntergang meine Verlegenheit maskierte.
Obwohl ich noch vergleichsweise jung war, war ich nicht naiv und hatte auch schon viele Begegnungen mit Frauen gehabt. Im Umgang mit sogenannten Höhergestellten war ich normalerweise völlig entspannt. Doch das alles schien auf einmal nicht mehr zu zählen. Es war frustrierend, sich plötzlich wieder wie ein grüner Junge zu fühlen.
Der Händedruck war knapp und fest, fast schmerzhaft. »Sie müssen viele Menschen eifersüchtig machen«, bemerkte sie.
»Ich … ja.« Ich war mir nicht ganz sicher, was sie meinte.
Ich begehrte sie sofort. Natürlich. Im Lauf des nächsten Jahres gab ich mich ausgefallenen Fantasien über sie hin, und ich bin sicher, dass ich bei der Abschlussprüfung deshalb schlechter abschnitt, weil ich bei so vielen Vorlesungen
damit beschäftigt war, mir auszumalen, wie ich es am liebsten mit ihr machen würde - dort, über
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