Wen der Rabe ruft (German Edition)
Unbrauchbarkeit zweier spiegelnder Oberflächen, die einander gegenüberstanden, hatte etwas zutiefst Beunruhigendes.
»Stell dich bloß nicht dazwischen«, warnte Persephone.
»Ich bin doch nicht blöd«, entgegnete Calla.
»Warum soll man sich nicht dazwischenstellen?«, fragte Blue.
»Wer weiß, was sie damit macht. Ich will schließlich nicht, dass meine Seele in eine Flasche abgefüllt wird und in einer anderer Dimension landet oder so.« Calla griff nach dem Rand des ersten Spiegels und achtete sorgsam darauf, außerhalb des Reflexionswinkels des anderen stehen zu bleiben. Stirnrunzelnd wedelte sie mit der Hand in Blues Richtung. Folgsam trat Blue vor, sodass Calla ihre Schulter berühren konnte.
Ein Augenblick verstrich in vollkommener Stille, abgesehen vom Summen der Insekten vor dem Fenster.
»Unsere kleine Neeve legt einen ganz schönen Ehrgeiz an den Tag«, knurrte Calla schließlich und verstärkte ihren Griff sowohl um den Rand des Spiegels als auch an Blues Schulter. »Wie es aussieht, meint sie, sie sei noch nicht berühmt genug. Durch so eine dämliche Fernsehsendung kennt einen ja schließlich kein Schwein.«
»Sei nicht so sarkastisch, Calla«, sagte Persephone. »Erzähl uns lieber, was du siehst.«
»Ich sehe sie zwischen den beiden Spiegeln stehen und sie trägt diese schwarze Maske da drüben. Ich glaube, ich sehe sie dort, wo sie vor Henrietta gewesen ist, da sind nämlich noch zwei weitere, größere Spiegel, je einer hinter jedem von diesen hier. Ich kann sie in allen vieren sehen und sie trägt überall die Maske, aber ansonsten sieht sie in jedem von ihnen anders aus. In einem ist sie schlanker. In einem trägt sie Schwarz. Im dritten stimmt irgendetwas mit ihrer Haut nicht. Ich bin mir nicht sicher, was das bedeutet … Kann sein, dass sie in ihnen ihre Möglichkeiten sieht.« Calla hielt inne. Beim Gedanken an so viele verschiedene Neeves erschauderte Blue. »Bring mir die Maske. Nein, nicht du, Blue, du bleib hier. Persephone?«
Mit spitzen Fingern reichte Persephone ihr die Maske. Wieder herrschte Schweigen, während Calla versuchte, den Gegenstand zu lesen, die Fingerknöchel weiß vor Anspannung.
»Sie war enttäuscht, als sie die hier gekauft hat«, sagte Calla. »Sie hatte eine schlechte Kritik bekommen, glaube ich, vielleicht für eins ihrer Bücher? Oder ihre Sendung? Nein. Sie hatte irgendwelche Zahlen gesehen, die mit einem von beidem zu tun hatten, und die waren wohl ziemlich niederschmetternd. Ich sehe die Zahlen ganz deutlich, die hatte sie im Kopf, als sie die Maske gekauft hat. Sie hat sich dabei mit Leila Polotsky verglichen.«
»Wer ist das denn?«, erkundigte sich Blue.
»Eine berühmtere Wahrsagerin als Neeve«, erklärte Calla.
»Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist«, erwiderte Blue. Eine eigene Fernsehsendung und vier Bücher, das kam ihr schon weit berühmter vor, als sie es je einer Wahrsagerin in dieser ungläubigen Welt zugetraut hätte.
»Oh, und ob das möglich ist«, sagte Calla. »Frag Persephone.«
»Ach, ich weiß nicht«, entgegnete Persephone. Blue war nicht sicher, was sie meinte – dass sie nicht wusste, wie das mit dem Berühmtsein war, oder dass man sie besser nicht fragen sollte.
Calla drängte weiter. »Egal, unsere liebe Neeve wünscht sich jedenfalls, sie könnte die Welt bereisen und endlich den Respekt ernten, den sie meint, verdient zu haben. Und die Maske hilft ihr dabei, sich das vorzustellen.«
»Und was hat das damit zu tun, dass sie hier ist?«, fragte Blue.
»Das weiß ich noch nicht. Ich brauche einen besseren Gegenstand.« Calla ließ den Spiegel los und hängte die Maske wieder an ihren Haken an der Wand.
Sie sahen sich weiter im Raum um. Blue fand eine Art Rute aus drei mit einem roten Band zusammengebundenen Stöcken und eine rote Maske, passend zu der schwarzen. Am Fenster stieß sie schließlich auf die Quelle des entsetzlichen Gestanks: ein Stoffbeutelchen, in das irgendetwas eingenäht war.
Sie reichte den Beutel Calla, die ihn nur eine Sekunde in der Hand hielt und dann abwinkend bemerkte: »Das ist Asafoetida. Nur ein Schutzzauber. Sie hat darauf zurückgegriffen, nachdem sie schlecht geträumt hatte.«
Persephone ging in die Hocke und hielt die Hände beinahe reglos über eine der Schalen. Der Anblick ihrer gespreizten Finger erinnerte Blue daran, wie Gansey seine Hände über den flachen Weiher in Cabeswater gehalten hatte. »Aus alldem hier spricht eine Menge Unsicherheit, oder?«, sagte
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