Wen der Rabe ruft (German Edition)
Kopf, flüsternd und zischend. Sie klangen wie das Rauschen, das Telefonleitungen in der Nähe der Ley-Linie befiel. Wie der Wind, bevor ein Unwetter losbrach. Als planten die Bäume eine Verschwörung. Wie immer konnte Whelk keine einzelnen Wörter ausmachen, konnte nicht verstehen, worum es ging. Aber eines begriff er: Irgendetwas Seltsames hatte sich in Henrietta zugetragen und die Stimmen konnten sich kaum wieder beruhigen.
Zum ersten Mal seit Jahren holte Whelk seine alten Landkarten aus dem winzigen Wandschrank im Flur. Er besaß keinen Tisch und die Arbeitsplatte in der Küchennische war mit leeren Mikrowellenlasagne-Packungen und Tellern mit alten Brotkrusten übersät, also breitete er die Karten stattdessen im Badezimmer aus. Eine Spinne, die in der Badewanne gesessen hatte, flitzte aus dem Weg, als er das Papier darin glatt strich.
Czerny, wenn du mich fragst, bist du besser dran als ich.
Doch das glaubte er nicht wirklich. Er hatte keine Ahnung, was aus Czernys Seele oder Geist, oder wie auch immer man das nennen wollte, was Czerny ausgemacht hatte, geworden war, aber wenn Whelk sich durch seinen Beitrag zu dem Ritual diese flüsternden Stimmen eingehandelt hatte, musste Czerny ein ungleich schlimmeres Schicksal ereilt haben.
Whelk trat zurück, verschränkte die Arme und studierte die Dutzenden von Markierungen und Notizen, mit denen er die Karten im Lauf seiner Suche versehen hatte. Czernys unleserliche Schrift, immer in Rot, verzeichnete Energiemessungen entlang des möglichen Verlaufs der Ley-Linie. Damals war das Ganze ein Spiel gewesen, eine Schatzsuche. Eine Chance auf Ruhm und Ehre. Wirklich? Es spielte keine Rolle mehr. Es war eine teure strategische Übung gewesen, mit der gesamten Ostküste als Spielfeld. Auf der Suche nach irgendwelchen Mustern hatte Whelk in mühevoller Kleinarbeit auf einer der topografischen Karten Kreise um Gegenden von besonderem Interesse gezogen. Ein Kreis um einen alten Eschenhain, in dem das Energieniveau immer besonders hoch war. Ein weiterer um eine Kirchenruine, die die Wildtiere zu meiden schienen. Ein dritter um den Ort, an dem Czerny gestorben war.
Natürlich hatte er diesen Kreis vor Czernys Tod eingezeichnet. Der Ort, ein düsteres Eichenwäldchen, war ihm wegen ein paar Worten, die dort in einen der Baumstämme geritzt waren, aufgefallen. Lateinisch, uralt. Sie schienen unvollständig, schwierig zu übersetzen, und das, was Whelk am ehesten daraus hatte lesen können, war: »der zweite Weg«. Auch dort war das Energieniveau vielversprechend, wenn auch sehr instabil gewesen. Ein ziemlich sicheres Zeichen dafür, dass der Ort auf der Ley-Linie lag.
Czerny und Whelk waren ein halbes Dutzend Mal dort gewesen, hatten Messungen vorgenommen (neben dem Kreis waren sechs unterschiedliche Zahlen in Czernys Handschrift eingetragen), in der Erde nach Artefakten gegraben und sich nachts auf die Lauer nach übernatürlicher Aktivität gelegt. Damals hatte Whelk seine bislang komplizierteste und sensibelste Wünschelrute gebaut: zwei Drähte, im Neunzig-Grad-Winkel gebogen, mit einem röhrenförmigen Griff aus Metall, der es ihr erlaubte, frei zu schwingen. Sie hatten die gesamte Gegend ringsum mit der Wünschelrute abgesucht, um den Verlauf der Linie präziser zu orten.
Doch sie war weiter unklar geblieben, war kurz aufgetaucht und wieder verschwunden, wie ein Radiosender am Rand seiner Reichweite. Die Linie musste geweckt, ihre Frequenz korrekt eingestellt und die Lautstärke aufgedreht werden. Czerny und Whelk hatten Pläne geschmiedet, das Ritual in dem Eichenwäldchen durchzuführen. Was den genauen Ablauf der Prozedur anging, waren sie sich jedoch nicht ganz sicher gewesen. Alles, was Whelk hatte herausfinden können, war, dass die Linie Gegenseitigkeit und Opferbereitschaft liebte, aber das war frustrierend vage. Da sich keinerlei andere Informationen finden ließen, hatten sie das Ganze immer weiter aufgeschoben. In den Winterferien. In den Osterferien. Am Ende des Schuljahrs.
Dann hatte Whelks Mutter angerufen und berichtet, dass sein Vater wegen unlauterer Geschäftsmethoden und Steuerhinterziehung verhaftet worden war. Wie sich herausgestellt hatte, hatte seine Firma Handel mit Kriegsverbrechern betrieben, was seine Mutter gewusst, Whelk geahnt und das FBI über Jahre hinweg beobachtet hatte. Und so hatten die Whelks über Nacht alles verloren.
Am nächsten Tag war in jeder Zeitung vom katastrophalen Zusammenbruch der Whelk-Dynastie zu lesen gewesen.
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