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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Raubtierlächeln. »Du kannst doch Noah nicht einfach vor die Tür setzen.«
    Gansey brauchte einen Augenblick, bis er begriff, dass Ronan einen Witz gemacht hatte, doch da war es schon zu spät zum Lachen. So oder so wusste er, dass er keine andere Wahl hatte, als den Vogel im Monmouth Manufacturing zu dulden, als er sah, wie besitzergreifend Ronan ihn festhielt. Und schon jetzt blickte der Rabe mit hoffnungsvoll geöffnetem Schnabel zu Ronan auf, schon jetzt war er von ihm abhängig.
    Gansey gab nach. »Na komm, lass uns gehen. Hoch mit dir.«
    Als Ronan unbeholfen auf die Füße kam, machte der Rabe sich in seinen Händen ganz klein, bis er nur noch aus Schnabel und Körper zu bestehen schien, ohne Hals. Er sagte: »Gewöhn dich lieber an solche Turbulenzen, kleines Scheißerchen.«
    »So kannst du ihn doch nicht nennen.«
    »Sie heißt Chainsaw«, erklärte Ronan, ohne aufzusehen. Dann rief er: »Noah, das ist total gruselig, wie du da hinten rumstehst.«
    Noah wartete schweigend in den tiefen Schatten nahe der Kirchentür. Eine Sekunde lang war nur sein bleiches Gesicht zu erkennen, seine dunklen Kleider waren unsichtbar, seine Augen wie bodenlose Schächte. Dann trat er ins Licht und sah so vertraut und zerknittert aus wie immer.
    »Ich dachte, du wolltest nicht mitkommen«, sagte Gansey.
    Noahs Blick wanderte an ihnen vorbei zum Altar und schließlich hoch zur Decke, die unsichtbar im Dunkeln lag. Gewohnt tapfer gestand er: »Zu Hause war’s mir zu unheimlich.«
    »Du Freak«, höhnte Ronan, aber das schien Noah nichts auszumachen.
    Gansey öffnete die Tür nach draußen. Von Adam war nichts zu sehen. Langsam regte sich sein schlechtes Gewissen, weil er seinen Freund wegen eines falschen Alarms auf den Plan gerufen hatte. Obwohl … Gansey war sich nicht ganz sicher, ob es tatsächlich falscher Alarm gewesen war. Irgendetwas war passiert, auch wenn er nicht genau sagen konnte, was. »Wo hast du den Vogel noch gleich gefunden?«
    »In meinem Kopf.« Ronans Lachen klang so schrill wie das Jaulen eines Schakals.
    »Gefährliches Pflaster«, kommentierte Noah.
    Ronan stolperte, seine sonst so scharfen Kanten gedämpft durch den Alkohol, und der Rabe in seinen Händen stieß einen schwachen Laut aus, mehr ein Gefühl als ein wirkliches Geräusch. Er antwortete: »Nicht für eine Kettensäge. Nicht für Chainsaw.«
    Zurück in der rauen Frühlingsnacht, legte Gansey den Kopf in den Nacken. Jetzt, da er wusste, dass es Ronan gut ging, sah er, dass Henrietta im Dunkeln ein wunderschöner Ort war, eine Patchworkstadt, bestickt mit schwarzen Zweigen.
    Von allen Vögeln auf der Welt tauchte Ronan ausgerechnet mit einem Raben auf.
    Gansey glaubte nicht an Zufälle.

10
    W helk schlief nicht.
    Damals, als er noch ein Aglionby-Junge gewesen war, war ihm das Schlafen so leichtgefallen – und warum auch nicht? Genau wie Czerny und der Rest seiner Klassenkameraden hatte er wochentags zwei, vier, vielleicht sechs Stunden geschlafen, spät ins Bett, früh wieder raus, und am Wochenende wahre Schlafmarathons eingelegt. Dann war er sofort stundenlang in einen tiefen, traumlosen Schlaf gesunken. Nein – er wusste, dass das nicht stimmte. Jeder Mensch träumte, nur vergaßen manche es wieder.
    Jetzt dagegen tat er kaum je länger als ein paar Stunden am Stück die Augen zu. Er wälzte sich im Bett herum. Er fuhr kerzengerade hoch, aufgeschreckt von fernem Geflüster. Er nickte auf seiner Ledercouch ein, dem einzigen Möbelstück, das sich die Regierung nicht unter den Nagel gerissen hatte. Seine Schlaf- und Energiephasen schienen von etwas Größerem, Mächtigerem als ihm selbst bestimmt zu werden, sie kamen und gingen wie unstete Gezeiten. Jeder Versuch, ein Muster darin zu erkennen, ließ ihn nur umso frustrierter zurück: Zwar fühlte er sich bei Vollmond und nach Gewittern wacher als sonst, der Rest aber war schwer vorauszusagen. Insgeheim stellte er sich vor, dass es das magnetische Pulsieren der Ley-Linie selbst war, die durch Czernys Tod irgendwie Zugang zu seinem Körper gefunden hatte.
    Der Schlafmangel machte sein Leben zu einem imaginären Erlebnis, seine Tage zu einem Seidenband, das ziellos im Wasser trieb.
    Es war beinahe Vollmond und vor Kurzem hatte es geregnet und das bedeutete: Whelk war hellwach.
    In T-Shirt und Boxershorts saß er vor seinem Computer und schob die Maus mit der wahllosen, fragwürdigen Produktivität der Erschöpften hin und her. Mit einem Mal drangen ihm wieder die unzähligen Stimmen in den

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