Wen der Rabe ruft (German Edition)
sie sich auch jetzt getröstet und aufgeregt zugleich, beruhigt und tatendurstig.
»Henrietta ist schon ein besonderer Ort«, hatte Neeve gesagt. Das Notizbuch schien ihr zuzustimmen. Nur inwiefern besonders, da war sie sich nicht sicher.
Blue hatte nicht vorgehabt, noch einmal einzuschlafen, doch genau das tat sie, für eine weitere Stunde und zwölf Minuten. Auch dieses Mal riss sie nicht ihr Wecker aus dem Schlaf. Sondern ein einzelner Gedanke, der durch ihren Kopf hallte:
Heute kommt Gansey zu seiner Sitzung.
Während Blue sich für die Schule fertig machte, unterhielten sich Maura und Neeve über alltäglichere Dinge als bei ihrem Treppengespräch. Aber das Notizbuch war noch genauso magisch wie zuvor. Blue setzte sich auf die Bettkante und strich über eins der Zitate darin:
Noch immer schläft der König unter einem Berg, um sich geschart seine Krieger, seine Herden, seine Reichtümer. Zu seiner Rechten steht sein Pokal, gefüllt mit Möglichkeiten. An seine Brust geschmiegt liegt sein Schwert, es wartet ebenso wie er auf das Erwachen. Glücklich der, der den König findet und die Tapferkeit besitzt, ihn zu erwecken, denn ihm allein wird der König eine Gunst erweisen, so wunderbar, wie ein Sterblicher sie sich nur vorzustellen vermag.
Sie schlug das Buch zu. Es war, als lauerte tief in ihr eine größere, furchtbar neugierige Blue auf die Gelegenheit, aus der Hülle der kleineren, vernünftigeren Blue, die sie zurückhielt, auszubrechen. Einen langen Moment ließ sie das Notizbuch auf ihren Beinen ruhen und legte die Handflächen auf den kühlen Einband.
Eine Gunst.
Wenn ihr eine Gunst gewährt würde, worum würde sie dann bitten? Nie wieder Geldsorgen zu haben? Zu erfahren, wer ihr Vater war? Eine Weltreise? Sehen zu können, was ihre Mutter sah?
Wieder hallte der Gedanke von vorhin durch ihren Kopf:
Heute kommt Gansey zu seiner Sitzung.
Wie er wohl ist?
Vielleicht würde sie, wenn sie vor diesem schlafenden König stünde, darum bitten, dass er Gansey das Leben rettete.
»Blue, ich hoffe, du bist wach!«, schrie Orla von unten. Blue musste bald los, wenn sie pünktlich mit dem Fahrrad zur Schule kommen wollte. In ein paar Wochen schon würde sie diese Fahrt in unerträglicher Hitze zurücklegen müssen.
Wenn ich doch heute schwänzen könnte.
Es war nicht so, dass Blue die Highschool hasste, sie fühlte sich dort nur wie … in einer Warteschleife. Sie wurde auch nicht gemobbt; zum Glück hatte sie ziemlich früh erkannt, dass sie, je seltsamer sie aussah – je deutlicher sie allen gleich von Anfang an zeigte, dass sie anders war –, umso weniger gehänselt oder ausgegrenzt werden würde. Im Gegenteil, als sie mit der Highschool angefangen hatte, war es geradezu schick geworden, seltsam und stolz darauf zu sein. Blue, die plötzlich als cool galt, hätte so viele Freunde haben können, wie sie nur wollte. Und sie hatte sich wirklich Mühe gegeben. Das Problem mit dem Seltsam-Sein war nur leider, dass alle anderen so normal waren.
Also blieben die Mitglieder ihrer Familie ihre engsten Freunde, die Schule blieb eine lästige Pflicht und Blue blieb nur die Hoffnung, dass es irgendwo da draußen noch mehr komische Leute wie sie gab. Auch wenn keiner von ihnen in Henrietta zu leben schien.
Es bestand die Möglichkeit, dachte sie, dass auch Adam komisch war.
»Blue!«, blaffte Orla wieder. »Schule!«
Das Notizbuch an die Brust gedrückt, eilte Blue auf die rot gestrichene Tür am Ende des Flurs zu. Der Weg führte sie an der Hektik des Telefon-/ Näh-/ Katzenzimmers und dem heftig umkämpften Kriegsgebiet namens Bad vorbei. Das Zimmer hinter der roten Tür wurde von Persephone bewohnt, einer von Mauras zwei besten Freundinnen. Die Tür war nur angelehnt, trotzdem klopfte Blue vorsichtig. Persephone schlief meistens schlecht, aber lebhaft; ihr mitternächtliches Schreien und Strampeln bewahrte sie davor, sich ein Zimmer mit jemand anderem teilen zu müssen. Gleichzeitig bedeutete das aber, dass sie sich aufs Ohr legte, wann immer sich die Möglichkeit dazu bot, darum wollte Blue sie nicht wecken.
Persephones zarte, etwas raue Stimme meldete sich: »Es ist geöffnet. Ich meine, herein.«
Als Blue die Tür aufschob, sah sie Persephone an ihrem Kartentisch am Fenster sitzen. Wenn man Leute drängte, ein Detail zu nennen, an das sie sich bei Persephone erinnerten, war es oft ihr Haar: eine lange, gewellte weißblonde Mähne, die ihr bis zu den Oberschenkeln reichte. Wenn die Leute das Haar
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