Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
Vom Netzwerk:
Whelk war von seinen beiden Freundinnen sitzen gelassen worden. Das heißt, die zweite war streng genommen Czernys Freundin gewesen, daher zählte sie vielleicht nicht. Die Öffentlichkeit hatte jedes Detail erfahren. Wie der Erbe des Whelk-Vermögens und berüchtigte Playboy aus seinem Zimmer in der Aglionby Academy geflogen war, wie er aus der Gesellschaft verstoßen und jeder Hoffnung auf eine Zukunft an einer Eliteuniversität beraubt worden war, wie vor seinen Augen sein Auto auf einen Laster geladen und alle Lautsprecher und Möbel aus seinem Zimmer geräumt worden waren.
    Das letzte Mal, als Whelk diese Karte betrachtet hatte, hatte er in seinem Aglionby-Zimmer gestanden und festgestellt, dass alles, was er nun noch besaß, ein Zehndollarschein in seiner Hosentasche war. Keine seiner Kreditkarten hatte noch eine Bedeutung gehabt.
    Czerny war in seinem roten Mustang vorgefahren und nicht ausgestiegen.
    »Gehörst du jetzt zum Prekariat?«, hatte er gefragt. Czerny hatte eigentlich keinen Sinn für Humor gehabt, er hatte nur manchmal Sachen gesagt, die zufällig lustig waren. Diesmal jedoch hatte Whelk, der inmitten der Scherben seines Lebens stand, nicht gelacht.
    Die Ley-Linie war kein Spiel mehr.
    »Steig aus«, hatte Whelk gesagt. »Wir führen das Ritual durch.«

11
    E ine Stunde und dreiundzwanzig Minuten bevor Blues Wecker für die Schule klingelte, erwachte sie vom Geräusch der Haustür. Das graue Licht der Dämmerung fiel durch ihr Fenster und ließ die Blätter, die sich gegen die Scheibe pressten, verschwommene Schatten werfen. Sie versuchte, sich nicht über die eine Stunde und dreiundzwanzig Minuten verlorenen Schlafes zu ärgern.
    Schritte kamen die Treppe hinauf. Dann hörte Blue die Stimme ihrer Mutter.
    »… bin aufgeblieben, um auf dich zu warten.«
    »Manche Dinge erledigt man besser nachts.« Das war Neeve. Obwohl ihre Stimme leiser war als Mauras, wirkte sie klarer und durchdringender. »Henrietta ist schon ein besonderer Ort, nicht wahr?«
    »Ich habe dich nicht gebeten, dich mit Henrietta zu befassen«, antwortete Maura laut flüsternd. Sie klang … abwehrend.
    »Das ist gar nicht so leicht. Es ruft so laut«, sagte Neeve. Ihre nächsten Worte gingen im Knarzen einer Treppenstufe unter.
    Auch Mauras Antwort wurde zum Teil übertönt, als sie selbst die Treppe hinaufging, aber es klang wie: »Es wäre mir lieber, wenn du Blue aus der Sache raushalten würdest.«
    Blue erstarrte.
    Neeve sagte: »Ich sage dir ja nur, was ich finde. Wenn er zur selben Zeit verschwunden ist, zu der … Möglicherweise besteht eine Verbindung. Willst du nicht, dass sie erfährt, wer er ist?«
    Eine weitere Stufe knarzte. Blue dachte: »Warum können die nicht mal kurz stehen bleiben, wenn sie sich unterhalten?«
    »Ich wüsste nicht, was das irgendjemandem bringen sollte«, fauchte Maura.
    Neeve murmelte eine Entgegnung.
    »Die Sache läuft jetzt schon aus dem Ruder«, sagte ihre Mutter. »Es sollte eigentlich kaum mehr sein als eine Suche im Internet und jetzt …«
    Blue spitzte die Ohren. Sie hatte das Gefühl, schon sehr lange kein männliches Pronomen mehr aus dem Mund ihrer Mutter gehört zu haben – ihr Gespräch über Gansey ausgenommen.
    Es war möglich, dachte Blue nach einer Weile, dass Maura von Blues Vater sprach. Keins der unbehaglichen Gespräche, in die sie ihre Mutter verwickelt hatte, hatte ihr je irgendwelche Informationen über ihn eingebracht, nur Nonsens-Antworten (»Er ist der Weihnachtsmann.«, »Er war ein Bankräuber.«, »Er ist gerade im Weltraum.«), die jedes Mal wechselten, wenn sie fragte. In Blues Vorstellung war er ein verwegener Held, der aufgrund einer tragischen Vergangenheit hatte untertauchen müssen. Vielleicht nahm er ja an einem Zeugenschutzprogramm teil. Sie malte sich gern aus, wie er über den Zaun einen Blick auf sie erhaschte und stolz seine ihm so fremde Tochter betrachtete, die im Garten ihren Tagträumen nachhing.
    Dafür, dass Blue ihrem Vater nie begegnet war, hatte sie ihn erstaunlich gern.
    Irgendwo in den Tiefen des Hauses fiel eine Tür zu und schließlich kehrte wieder die Art von nächtlicher Stille ein, die schwer zu durchbrechen war. Eine Weile später streckte Blue die Hand nach der Plastiktonne aus, die ihr als Nachttisch diente, und griff nach dem Notizbuch. Sie legte eine Hand auf den kühlen Ledereinband, dessen Oberfläche sich anfühlte wie die glatte Borke der Buche hinter dem Haus. Genau wie sonst, wenn sie die Buche berührte, fühlte

Weitere Kostenlose Bücher