Wen der Rabe ruft (German Edition)
halbwegs verkraftet hatten, fielen ihnen manchmal noch Persephones Kleider ein – wahlweise aufwendige, bauschige Kreationen oder ulkige Hängerchen. Und wenn sie auch darüber hinweggekommen waren, landeten die Leute bei ihren verstörenden Augen, schwarz und spiegelblank, die Pupillen im Dunkel verborgen.
Im Moment hielt Persephone einen Bleistift in der Hand, ihr Griff war seltsam kindlich. Als sie Blue sah, runzelte sie die Stirn, was ihr Gesicht spitz aussehen ließ.
»Guten Morgen«, sagte Blue.
»Guten Morgen«, echote Persephone. »Es ist zu früh. Mein Sprachzentrum funktioniert noch nicht, darum benutze ich einfach so viele von deinen Wörtern wie möglich.«
Sie machte eine vage Geste aus dem Handgelenk, die Blue als Einladung, sich zu setzen, interpretierte. Der Großteil des Betts war zwar unter exotisch bestickten Leggings und karierten Strumpfhosen verschwunden, die aussahen, als liefen sie auf der Stelle, aber ganz an der Kante fand Blue noch ein Plätzchen für ihren Hintern. Der Raum roch vertraut, nach Orangen oder Babypuder oder vielleicht auch einem neuen Schulbuch.
»Schlecht geschlafen?«, erkundigte Blue sich.
»Schlecht«, spielte Persephone wieder Echo. Dann fügte sie hinzu: »Obwohl, eigentlich stimmt das nicht. Ich werde wohl doch meine eigenen Wörter benutzen müssen.«
»Woran arbeitest du da?«
Meistens schrieb Persephone an ihrer ewigen Doktorarbeit, aber da dieser Prozess grimmige Musik und häufige Snackpausen zu erfordern schien, tat sie das selten während des allgemeinen Morgenchaos.
»Ach, ist nur so eine Kleinigkeit«, antwortete Persephone traurig. Oder vielleicht auch nachdenklich. Das war schwer zu unterscheiden und Blue wollte nicht nachfragen. Persephone hatte einen Liebhaber oder Ehemann, der entweder tot oder in Übersee war – von Persephone erfuhr man nie viele Details –, und sie schien ihn zu vermissen oder seine Abwesenheit zumindest zu bemerken, was für Persephone schon außergewöhnlich war. Doch auch danach fragte Blue lieber nicht. Sie hatte Mauras Abneigung dagegen geerbt, Leute weinen zu sehen, also brachte sie das Gespräch nicht gern auf Themen, die zu Tränen führen konnten.
Persephone hielt ihr Blatt Papier so, dass Blue es sehen konnte. Sie hatte nur dreimal das Wort »drei« geschrieben, in drei verschiedenen Handschriften, und ein Stück darunter stand ein Rezept für Bananencremetorte.
»Aller guten Dinge sind drei?«, riet Blue. Das war eins von Mauras liebsten Sprichwörtern.
Persephone unterstrich das Wort »Esslöffel« vor »Vanilleextrakt«. Ihre Stimme klang abwesend und unbestimmt. »Oder sieben. Das ist eine Menge Vanille. Man fragt sich doch, ob das ein Tippfehler ist.«
»Man fragt sich«, wiederholte Blue.
»Blue!«, rief Maura von unten. »Bist du immer noch nicht weg?«
Blue antwortete nicht, weil Persephone schrille Töne nicht ausstehen konnte und zum Zurückrufen vermutlich welche nötig gewesen wären. Stattdessen sagte sie: »Ich habe was gefunden. Wenn ich es dir zeige, versprichst du, dass du niemandem davon erzählst?«
Eigentlich war die Frage Unsinn. Persephone erzählte kaum je irgendwem etwas, selbst wenn es gar kein Geheimnis war.
Als Blue ihr das Notizbuch reichte, fragte Persephone: »Soll ich das aufschlagen?«
Blue wedelte mit der Hand. Ja klar, und mach schnell. Während Persephone mit ausdruckslosem Gesicht in dem Buch blätterte, rutschte Blue unruhig auf dem Bett hin und her.
Schließlich fragte sie: »Und?«
»Schön«, sagte Persephone höflich.
»Es gehört nicht mir.«
»Ja, das sehe ich.«
»Jemand hat es bei Ni… Moment mal, wie meinst du das?«
Persephone blätterte vor und zurück. Ihre zarte Kinderstimme war so leise, dass Blue den Atem anhalten musste, um sie zu hören. »Das ist ganz klar das Notizbuch eines Jungen. Und außerdem braucht er ewig für seine Suche nach diesem Ding. Du hättest es schon längst gefunden.«
»Blue!«, brüllte Maura. »Ich rufe jetzt zum letzten Mal!«
»Was meinst du, was soll ich damit machen?«, wollte Blue wissen.
Persephone ließ die Finger über die verschiedenen Texturen der Ausschnitte gleiten, genau wie Blue es getan hatte. Ihr wurde klar, dass Persephone recht hatte: Wäre dieses Notizbuch ihres gewesen, hätte sie die nötigen Informationen abgeschrieben, statt sie auszuschneiden und einzukleben. Diese unterschiedlichen Schnipsel waren zwar ein Hingucker, aber unnötig; wer auch immer die Informationen zusammengestellt hatte, musste
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