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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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ging so vorsichtig damit um, als befänden sich rohe Eier darin.
    »Was ist das denn für eine Tasche?«, fragte Gansey und dann dämmerte es ihm: »Oh Gott, du hast den Vogel da drin, stimmt’s?«
    »Sie muss alle zwei Stunden gefüttert werden.«
    »Woher weißt du das denn?«
    »Mann, Gansey. Aus dem Internet.« Ronan zog die Tür von Borden House auf. Jenseits der Schwelle war alles in Sichtweite mit marineblauem Teppich ausgelegt.
    »Wenn sie dich damit erwischen …« Doch Gansey fiel keine geeignete Drohung ein. Was war wohl die Strafe dafür, einen lebendigen Vogel mit in den Unterricht zu schmuggeln? Er war nicht sicher, ob es so einen Fall schon mal gegeben hatte. Stattdessen sagte er: »Wenn er in deiner Tasche stirbt, verbiete ich dir, ihn in irgendeinem Klassenraum in den Mülleimer zu schmeißen.«
    » Sie«, korrigierte Ronan. »Es ist eine Sie.«
    »Das würde ich dir sogar glauben, wenn dieses Vieh irgendwelche offensichtlichen Geschlechtsmerkmale aufweisen würde. Hoffentlich hat es keine Vogelgrippe.« Aber er dachte schon nicht mehr an Ronans Vogel. Er dachte an Adam, der nicht in der Schule war.
    Ronan und Gansey nahmen ihre gewohnten Plätze im hinteren Teil des mit marineblauem Teppich ausgelegten Klassenzimmers ein. Vorne stand bereits Whelk und schrieb Verben an die Tafel.
    Als die beiden hereingekommen waren, hatte Whelk mitten im Wort innegehalten: »internec…« Und obwohl Gansey sich nicht erklären konnte, warum Whelk sich für ihr Gespräch interessieren sollte, hatte er das seltsame Gefühl, dass Whelks erhobene Hand mit der Kreide ihretwegen in der Luft erstarrt war, dass der Lateinlehrer mit dem Schreiben aufgehört hatte, um sie zu belauschen. Adams Argwohn begann langsam wirklich, auf ihn abzufärben.
    Ronan fing Whelks Blick auf und erwiderte ihn unfreundlich. Trotz seines Interesses an Latein hatte Ronan den Lehrer vor einiger Zeit als sozial zurückgebliebenen Scheißtypen bezeichnet und dem Ganzen noch die dringend nötige Erklärung hinzugefügt, dass er ihn nicht leiden konnte. Nun verachtete Ronan ja so ziemlich jeden und war deshalb kein besonders guter Menschenkenner, aber in diesem Fall musste Gansey ihm zustimmen: Whelk hatte etwas Unangenehmes an sich. Ein paarmal hatte Gansey versucht, sich mit ihm über römische Geschichte zu unterhalten – er war sich der Wirkung durchaus bewusst, die ein enthusiastisches Gespräch auf eine ansonsten eher bescheidene Note haben konnte. Aber Whelk war zu jung, um als Mentor, und zu alt, um als Kumpel durchzugehen, und Gansey fand keinen rechten Draht zu ihm.
    Ronan starrte Whelk weiter an. Darin war er gut. Sein Blick hatte irgendetwas an sich, das seinem Gegenüber etwas zu rauben schien.
    Der Lateinlehrer wandte sich unbeholfen ab. Nachdem er so mit Whelks Neugier fertiggeworden war, fragte Ronan: »Was willst du jetzt wegen Parrish unternehmen?«
    »Schätze mal, ich fahre nach der Schule bei ihm vorbei. Oder?«
    »Wahrscheinlich ist er krank.«
    Sie sahen einander an. »Jetzt erfinden wir schon Ausreden für ihn«, dachte Gansey.
    Ronan spähte wieder in seine Tasche. In der Dunkelheit darin konnte Gansey kurz einen Blick auf den Schnabel des Raben erhaschen. Normalerweise hätte er sich jetzt noch einmal seiner Verwunderung darüber gewidmet, dass Ronan ausgerechnet einen Raben gefunden hatte, aber im Moment, solange Adam verschwunden war, erschien ihm der Gedanke an seine Suche weniger magisch. Es war vielmehr, als flickte er seit Jahren Zufälle zu einem merkwürdigen Tuch zusammen – zu schwer, um es zu tragen, und zu leicht, um damit irgendetwas Nützliches anzustellen.
    »Mr   Gansey, Mr   Lynch?« Irgendwie war es Whelk gelungen, sich urplötzlich zwischen ihren Tischen zu materialisieren. Beide Jungen sahen zu ihm hoch, Gansey höflich, Ronan feindselig.
    »Sie haben heute aber eine ziemlich große Tasche dabei, Mr   Lynch«, bemerkte Whelk.
    »Na ja, Sie wissen ja, was man über Männer mit großen Taschen sagt«, erwiderte Ronan . »Ostende tuum et meum ostendam.«
    Gansey hatte keine Ahnung, was Ronan gerade gesagt hatte, aber seinem Grinsen nach zu urteilen, zeugte es nicht unbedingt von guten Manieren.
    Ein Blick in Whelks Gesicht bestätigte Ganseys Verdacht, doch er klopfte lediglich mit den Fingerknöcheln auf Ronans Pult und ging weiter.
    »Meinst du wirklich, du kriegst eine Eins, wenn du dich hier wie der letzte Arsch benimmst?«, tadelte Gansey.
    Ronan schenkte ihm ein strahlendes Zahnpastalächeln.

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