Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater

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waren. Sie bewegten sich in einem Muster, das völlig anders war als das Flackern der Flamme.
    Blue zitterte. »Ich bin unsichtbar.«
    »Ahhhhhhh«, ächzte Nicht-Neeve.
    »Wer bist du?«, fragte Blue.
    Die Kerzenflamme wurde länger, länger, so dünn, dass sie fast zu brechen drohte. Sie streckte sich nicht nach dem Himmel aus, sondern nach Blue.
    »Neeve«, sagte Nicht-Neeve.
    Die finstere Stimme hatte jetzt etwas Listiges an sich. Etwas Wissendes, Heimtückisches, das in Blue den Drang auslöste, einen Blick hinter sich zu werfen. Doch sie konnte die Augen nicht von der Kerze wenden, aus Angst, die Flamme würde sie berühren, sobald sie sich wegdrehte.
    »Wo bist du?«, fragte Blue.
    »Auf dem Leichenweg«, knurrte Nicht-Neeve.
    Blue wurde bewusst, dass ihr Atem sich vor ihr zu Wölkchen formte. Gänsehaut überzog ihre Arme, schnell und schmerzhaft. Im Dämmerlicht der Kerze erkannte sie, dass Neeves Atem ebenfalls sichtbar war.
    Über der Pfütze teilte sich Neeves Atemwolke, als stiege etwas Körperliches aus dem Wasser auf, das sie zerschnitt.
    Blue stürzte vor, trat gegen die leere Schüssel, warf die unangezündete Kerze um und schleuderte Erde in Richtung der schwarzen Pfütze.
    Die brennende Kerze verlosch.
    Eine Minute lang herrschte vollkommene Dunkelheit. Kein Geräusch war zu hören, so als befänden sich der Baum und der Garten ringsum gar nicht mehr in Henrietta. Trotz der Stille schien es Blue, als wären sie nicht allein, und es war ein schreckliches Gefühl.
    »Ich bin in einer Blase«, dachte sie hektisch. »Ich bin in einer Festung. Rund um mich ist Glas. Ich kann rausgucken, aber niemand kommt zu mir herein. Ich bin unberührbar.« All die Metaphern, die Maura ihr an die Hand gegeben hatte, um sich vor übersinnlichen Angriffen zu schützen. Gegen die Stimme, die aus Neeve gesprochen hatte, fühlten sie sich an wie nichts.
    Und dann war es plötzlich vorbei. Ihre Gänsehaut war so schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit – obwohl es sich eher so anfühlte, als würde Licht zurück in die Welt gesaugt – und sie sah Neeve, die noch immer neben der Pfütze kniete.
    »Neeve«, flüsterte Blue.
    Einen Augenblick lang geschah gar nichts, dann hob Neeve Kinn und Hände.
    Bitte sei wieder Neeve. Bitte sei wieder Neeve.
    Blues gesamter Körper war bereit zur Flucht.
    Dann erkannte sie, dass Neeves Augenbrauen wieder ihre gewohnt strenge, gerade Form angenommen hatten, obwohl ihre Hände zitterten. Erleichtert seufzte Blue auf.
    »Blue?«, sagte Neeve. Ihre Stimme klang ganz normal. Dann schien sie plötzlich zu verstehen. »Oh. Du erzählst doch deiner Mutter nichts davon, oder?«
    Blue starrte sie an. »Und ob ich das tue! Was war das? Was hast du gemacht?« Ihr Herz hämmerte noch immer wie wild und erst jetzt, da sie darüber nachdenken konnte, merkte sie, wie viel Angst sie hatte.
    Neeve betrachtete gedankenversunken das zerstörte Pentagramm, die daliegende Kerze, die umgeworfene Schüssel. »Ich habe versucht, etwas zu sehen.«
    Die Sanftheit in ihrer Stimme machte Blue nur noch wütender.
    »Das hast du vorher auch schon gemacht, mit dem Saft. Das hier war was ganz anderes!«
    »Ich wollte diesen Ort, den ich gesehen hatte, genauer erkunden. Ich dachte, ich könnte mit jemandem dort in Kontakt treten, um herauszufinden, was für ein Ort es ist.«
    Blues Stimme war bei Weitem nicht so fest, wie es ihr lieb gewesen wäre. »Es hat gesprochen. Das warst nicht du, als ich hergekommen bin.«
    »Tja«, erwiderte Neeve ein wenig verärgert. »Daran bist du selbst schuld. Du verstärkst schließlich alles. Ich hatte dich nicht hier erwartet, sonst …«
    Sie brach mitten im Satz ab und betrachtete mit schräg gelegtem Kopf den Kerzenstumpen. Irgendwie wirkte die Geste nicht sonderlich menschlich und rief Blue den unangenehmen Schauer in Erinnerung, der sie zuvor überlaufen hatte.
    »Sonst was?«, verlangte Blue zu wissen. Ein wenig war sie auch darüber verärgert, dass plötzlich sie schuld an dem sein sollte, was soeben passiert war, was auch immer es gewesen sein mochte. »Was war das? Die Stimme hat behauptet, sie wäre auf dem Leichenweg. Ist das dasselbe wie eine Ley-Linie?«
    »Natürlich«, antwortete Neeve. »Henrietta liegt direkt auf einer Ley-Linie.«
    Das bedeutete, Gansey hatte recht gehabt. Und außerdem bedeutete es, dass Blue genau wusste, wie die Ley-Linie verlief, denn sie hatte erst vor wenigen Tagen Ganseys Geist darauf