Wen der Rabe ruft (German Edition)
wandeln sehen.
»Darum fällt das Hellsehen hier so leicht«, erklärte Neeve. »Hier herrscht eine starke Energie.«
»Energie – so wie meine?«, wollte Blue wissen.
Neeve vollführte eine Handbewegung und hob dann die Kerze auf. Sie hielt sie verkehrt herum und drückte den Docht zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen, um sicherzugehen, dass sie völlig gelöscht war. »Ja, so wie deine Energie. Sie gibt den Dingen Nahrung. Wie hast du es noch ausgedrückt? Sie macht das Gespräch lauter. Die Glühbirne heller. Alles, was zum Weiterleben Energie braucht, lechzt danach genau wie nach deiner.«
»Was hast du gesehen?«, fragte Blue. »Als du …«
»Als ich dort war?«, beendete Neeve den Satz, obwohl Blue nicht sicher war, dass sie es so formuliert hätte. »Da ist jemand, der deinen Namen kennt. Und noch jemand, der nach derselben Sache sucht wie du.«
»Wie ich?«, wiederholte Blue bestürzt. Sie suchte nach gar nichts. Es sei denn, Neeve meinte diesen mysteriösen Glendower. Ihr fiel das Gefühl der Verbundenheit wieder ein und wie verstrickt sie sich bereits in dieses Netz aus Raven Boys und schlafenden Königen und Ley-Linien gefühlt hatte. Wie ihre Mutter sie gewarnt hatte, sich von ihnen fernzuhalten.
»Ja, du weißt, wovon ich rede«, sagte Neeve. »Ah. Jetzt ist mir einiges viel klarer.«
Blue dachte an die hungrig wachsende Kerzenflamme, die huschenden Lichter in der Pfütze. Sie spürte eine Kälte tief in ihrem Inneren. »Du hast mir immer noch nicht gesagt, was das war. In der Pfütze.«
Neeve sah auf, sie hatte all ihre Materialien aufgesammelt. Ihr Blick war von der undurchdringlichen Sorte, die eine Ewigkeit dauern konnte.
»Das liegt daran, dass ich keine Ahnung habe«, sagte sie.
18
A m nächsten Tag vor der Schule erlaubte sich Whelk, Ganseys Spind zu durchsuchen.
Dieser Spind, einer der wenigen, die überhaupt in Gebrauch waren, befand sich nur ein paar Meter entfernt von demjenigen, den Whelk als Schüler benutzt hatte, und als er ihn öffnete, durchfluteten ihn Erinnerungen und ein Gefühl von Nostalgie. Vor langer Zeit war das hier er gewesen – einer der reichsten Jungen an der Aglionby, der sich aussuchen konnte, mit welchen Freunden er sich abgab, mit welchen Mädchen aus der Stadt er ausging und zu welchen Unterrichtsstunden er sich zu erscheinen bequemte. Sein Vater hatte keine Skrupel gehabt, hier und da eine Extraspende an die Schule zu leisten, wenn Whelk dadurch in einem Fach durchkam, in dem er sich über Wochen nicht hatte blicken lassen. Whelk sehnte sich nach seinem alten Auto. Die Polizisten von Henrietta hatten seinen Vater gut gekannt; sie hatten nie auch nur versucht, Whelk rechts ranzuwinken.
Und jetzt lebte Gansey hier wie ein König und nutzte es nicht einmal aus.
Dank des Ehrenkodex’ der Aglionby war keiner der Spinde mit einem Schloss versehen, sodass Whelk den von Gansey problemlos öffnen konnte. Darin fand er mehrere verstaubte Spiralnotizbücher, in denen jeweils nur ein paar Seiten beschrieben waren. Für den Fall, dass Gansey beschließen sollte, zwei Stunden zu früh zur Schule zu kommen, hinterließ Whelk einen Zettel in seinem Spind (»Ausgeräumt wegen Kakerlakenbekämpfung«) und zog sich dann in eine der unbenutzten Lehrertoiletten zurück, um seinen Fund zu untersuchen.
Als er im Schneidersitz auf den makellosen, aber staubigen Fliesen neben dem Waschbecken saß, enthüllte sich ihm, dass Richard Gansey III. noch viel besessener von der Ley-Linie war, als er selbst es je gewesen war. Irgendwas an seinen Aufzeichnungen wirkte so … verzweifelt.
»Was stimmt bloß nicht mit dir, mein Junge?«, fragte sich Whelk und staunte dann über sich selbst, weil er offenbar so alt geworden war, dass er Gansey in Gedanken »mein Junge« nannte.
Vor der Toilette hörte er Absätze über den Flur klappern. Kaffeeduft kroch unter der Tür hindurch zu ihm herein – die Aglionby erwachte. Whelk schlug das nächste Notizbuch auf.
In diesem ging es nicht um die Ley-Linie. Es enthielt ausschließlich historische Daten über den walisischen König Owen Glendower. Das interessierte Whelk nicht. Er blätterte und blätterte und blätterte, in dem Glauben, das eine hätte mit dem anderen nichts zu tun, bis er schließlich begriff, dass Gansey die beiden Elemente miteinander in Verbindung brachte. Glendower und die Ley-Linie. Trottel oder nicht, Gansey wusste jedenfalls, wie er eine Story verkaufen musste.
Whelk konzentrierte sich auf eine Zeile.
Wer
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