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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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alles, was man als Small Talk einstufen konnte.
    »Was ist das denn?«, fragte Calla angewidert, als wären die Blumen ein unerwünschtes Katzenjunges.
    »Die sind für …« Die Frau tastete nach einem Kärtchen.
    »Orla?«, riet Blue.
    Orla bekam immer jede Menge Blumen von allen möglichen liebeskranken Verehrern aus Henrietta und Umgebung. Und nicht nur Blumen. Manche sandten Wellnesspakete. Andere Obstkörbe. Einer, der stets unvergessen bleiben würde, hatte sogar mal ein Ölgemälde von Orla angefertigt. Er hatte sie im Profil porträtiert, sodass der Blick des Betrachters auf Orlas langen, eleganten Hals gelenkt wurde, auf ihre klassischen Wangenknochen, ihre versonnenen Augen mit den schweren Lidern – und ihre riesige Nase, jenen Körperteil, den sie am wenigsten an sich leiden konnte. Orla hatte ihn umgehend in die Wüste geschickt.
    »Blue?«, fragte die Frau. »Blue Sargent?«
    Zuerst verstand Blue gar nicht, dass die Frau sagen wollte, die Blumen seien für sie. Sie musste sie ihr erst hinstrecken und Calla musste eine ihrer Taschen wieder selbst tragen, damit Blue sie in Empfang nehmen konnte. Während die Frau zu ihrem Auto zurückging, drehte Blue den Strauß in den Händen hin und her. Es war nur ein wenig Schleierkraut rund um eine einzelne weiße Nelke; das Ganze roch besser, als es aussah.
    »Da hat die Lieferung sicher mehr gekostet als die Blumen«, kommentierte Calla.
    Zwischen den drahtigen Stängeln ertastete Blue ein kleines Kärtchen. Darin hatte eine Frau die Botschaft niedergekritzelt:
    Ich hoffe, du willst immer noch, dass ich anrufe. Adam
    Das erklärte, warum der Strauß so winzig war. Er passte zu Adams ausgefranstem Pullover.
    »Du wirst ja ganz rot«, bemerkte Calla missbilligend. Sie streckte eine Hand nach den Blumen aus, doch Blue schlug sie weg. Sarkastisch fügte Calla hinzu: »Na, wer auch immer dir die geschickt hat, hatte echt die Spendierhosen an, was?«
    Blue hob den Rand der weißen Nelke an ihr Kinn. Sie war so zart, dass sie die Berührung kaum spürte. Vielleicht war es kein Porträt oder Obstkorb, aber sie hätte sich auch nicht vorstellen können, dass Adam etwas Dramatischeres schickte. Die kleinen Blümchen waren zurückhaltend, genau wie er. »Ich finde sie hübsch.«
    Sie musste sich auf die Unterlippe beißen, um das dümmliche Lächeln, das in ihr aufstieg, zu unterdrücken. Am liebsten hätte sie die Blumen an sich gedrückt und einen kleinen Tanz aufgeführt, aber beides schien ihr gerade eher unangebracht.
    »Wer ist er?«, wollte Calla wissen.
    »Bleibt mein Geheimnis. Und jetzt nimm mal deine Taschen zurück.« Blue streckte den Arm aus, sodass die braune und die Leinentasche in Callas Hände rutschten.
    Calla schüttelte den Kopf, aber sie wirkte nicht verärgert. Tief im Innersten, so vermutete Blue, war sie doch eine Romantikerin.
    »Calla?«, fragte Blue. »Meinst du, ich soll den Jungs sagen, wo der Leichenweg ist?«
    Calla sah Blue so lange an, dass es fast als Neeve-Blick hätte durchgehen können. Dann fragte sie zurück: »Wie kommst du darauf, dass ich dir diese Frage beantworten kann?«
    »Weil du erwachsen bist«, entgegnete Blue. »Und man schon das eine oder andere gelernt haben sollte, wenn man so alt ist.«
    »Ich glaube aber«, sagte Calla, »dass du sowieso genau weißt, was du tun willst.«
    Blue sah zu Boden. Es stimmte, dass Ganseys Notizbuch, diese Verheißung, dass es auf der Welt mehr gab, als sie geglaubt hatte, sie nachts vom Schlafen abhielt. Und es stimmte auch, dass die Vorstellung sie nicht losließ, dass es vielleicht, nur ganz vielleicht, einen schlafenden König gab und sie die Hand auf seine Wange legen und einen jahrhundertealten Puls unter seiner Haut fühlen könnte.
    Wichtiger als all das waren jedoch ihr Gesicht auf dem »Buben der Kelche«, die regennassen Schultern eines Jungen auf dem Kirchhof und eine Stimme, die sagte: »Gansey. Mehr ist da nicht.«
    Seit sie gesehen hatte, dass ihm der Tod vorbestimmt war und dass es ihn wirklich gab, und seit sie herausgefunden hatte, dass sie selbst eine Rolle dabei spielen würde, konnte sie einfach nicht mehr bloß dastehen und es geschehen lassen.
    »Sag es nicht Mom, ja?«, bat Blue.
    Mit einem Brummen, das weder Ja noch Nein bedeutete, riss Calla die Haustür auf und ließ Blue mit ihren Blumen davorstehen. Die Blüten waren federleicht, in Blues Händen aber fühlten sie sich an wie eine Veränderung.
    »Heute«, dachte Blue, »ist der Tag, an dem ich aufhöre, nach

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