Wen der Rabe ruft (German Edition)
einem begegnet. Ich sehe solche Sachen normalerweise nicht, aber diesmal schon. Ich habe dich nach deinem Namen gefragt und du hast geantwortet: ›Gansey. Mehr ist da nicht.‹ Ehrlich gesagt, war das zum Teil der Grund dafür, dass ich heute mitkommen wollte.«
Diese Antwort stellte Gansey mehr oder weniger zufrieden – immerhin war sie die Tochter einer Wahrsagerin und es passte zu der Aufnahme auf seinem Gerät –, auch wenn er das Gefühl hatte, dass er nur einen Teil der Wahrheit zu hören bekommen hatte. Ronan fragte: »Wo hast du ihn gesehen?«
»Draußen, als ich mit einer von meinen Halbtanten zusammensaß.«
Das wiederum schien Ronan zufriedenzustellen, dessen nächste Frage lautete: »Halb Tante, halb was?«
»Mensch, Ronan«, schaltete sich Adam ein. »Das reicht jetzt.«
Einen Moment lang herrschte angespanntes Schweigen, nur erfüllt vom steten Dröhnen des Helikopters. Alles wartete, das wusste Gansey, auf sein Urteil. Glaubte er Blue, fand er, dass sie ihren Angaben folgen sollten, traute er ihr?
Ihre Stimme war auf dem Band. Er hatte das Gefühl, dass ihm keine Wahl blieb. Was er dachte, aber in Helens Gegenwart nicht aussprechen wollte, war: »Du hast recht, Ronan, es fängt an. Irgendetwas fängt an.« Und er dachte: »Sag du mir, was du von ihr hältst, Adam. Sag mir, warum du ihr traust. Lass ausnahmsweise mal nicht mich entscheiden. Ich weiß nicht, ob ich recht habe.« Was er stattdessen sagte, war: »Ich möchte, dass von jetzt an alle ehrlich miteinander sind. Keine Spielchen mehr. Und das gilt nicht nur für Blue. Sondern für uns alle.«
Ronan sagte: »Ich bin immer ehrlich.«
»Oh Mann, das ist ja wohl die größte Lüge, die du je von dir gegeben hast«, erwiderte Adam.
»Okay«, sagte Blue.
Gansey hatte den Verdacht, dass niemand von ihnen eine vollkommen aufrichtige Antwort gab, aber zumindest hatte er ihnen jetzt mitgeteilt, was ihm wichtig war. Manchmal musste es reichen, es wenigstens einmal ausgesprochen zu haben.
Die Kopfhörer wurden still, als Adam, Blue und Gansey konzentriert aus dem Fenster starrten. Unter ihnen flog Grün und noch mehr Grün dahin. Aus dieser Höhe wirkte alles so niedlich wie eine Spielzeugszenerie aus Samtfeldern und Brokkolibäumen.
»Was suchen wir denn?«, erkundigte sich Helen.
»Das Übliche«, antwortete Gansey.
»Und was ist das Übliche?«, fragte Blue.
»Das Übliche« war in den allermeisten Fällen hektarweise Nichts, aber Gansey sagte: »Manchmal sind die Ley-Linien so markiert, dass man es aus der Luft erkennen kann. In Großbritannien gibt es zum Beispiel in Berghänge geritzte Bilder von Pferden.«
Er hatte mit Malory in einem kleinen Starrflügelflugzeug gesessen, als er das Uffington-Pferd, einen in den Hang eines englischen Kalksteinhügels gescharrten Hundert-Meter-Koloss, zum ersten Mal gesehen hatte. Wie alles, was mit den Ley-Linien zu tun hatte, war das Pferd nicht gerade als … gewöhnlich zu bezeichnen. Es wirkte gedehnt und stilisiert, eine elegante, etwas unheimliche Silhouette, die mehr die Idee eines Pferdes darstellte als ein Pferd selbst.
»Erzähl ihr von Nazca«, murmelte Adam.
»Oh ja, richtig«, sagte Gansey. Auch wenn Blue das Notizbuch zum großen Teil gelesen hatte, gab es immer noch viel, was nicht darinstand, und anders als bei Ronan, Adam und Noah hatte sich ihr Leben nicht das ganze letzte Jahr lang um die Suche gedreht. Plötzlich musste er sich zurücknehmen, um sich nicht allzu sehr von der Vorstellung begeistern zu lassen, ihr das Ganze zu erklären. Die Geschichte klang nun mal immer viel plausibler, wenn er alle Fakten auf einmal darstellen konnte.
Er erzählte weiter: »In Peru gibt es Hunderte von in den Boden geritzten Linien, die die Form von Vögeln oder Affen oder Menschen oder Fantasiewesen haben. Tausende Jahre alt, aber komplett erfassen kann man sie nur aus der Luft. Mit einem Flugzeug. Sie sind einfach zu groß, als dass man sie vom Boden aus erkennen könnte. Wenn man direkt danebensteht, sehen sie bloß aus wie in den Boden gescharrte Pfade.«
»Und du hast sie gesehen«, sagte Blue.
Als Gansey die Nazca-Linien mit eigenen Augen gesehen hatte, so riesig, fremd und symmetrisch, hatte er gewusst, dass er niemals würde aufgeben können, bis er Glendower gefunden hatte. Zuerst war ihm die schiere Größe der Linien aufgefallen – Hunderte von Metern seltsamer Bilder mitten in der Wüste. Die Präzision hatte ihm die Sprache verschlagen. Die Zeichnungen waren geradezu
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