Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
Vom Netzwerk:
seiner Musterschülerin. »Dann sei doch so gut und erklär es mir. Du kennst dich wahrscheinlich besser aus als ich.«
    Wie zuvor schon erklangen seine Worte in dem breiten, vornehmen Akzent des alten Virginia, neben dem Blue sich wie der letzte Bauerntrampel fühlte.
    »Ich weiß nur, dass sich Tote immer in geraden Linien bewegen«, sagte sie. »Dass man Leichen früher stets auf geradem Weg zur Kirche getragen hat, um sie zu begraben. Entlang dem, was du die Ley-Linie nennst. Es hieß, dass es großes Unglück bringt, sie auf einem anderen Weg herzubringen als dem, den sie als Geist bereisen würden.«
    »Stimmt«, sagte er. »Demnach liegt es nahe, dass die Linie irgendetwas an sich hat, das der Leiche Halt gibt, sie beschützt. Beziehungsweise ihre Seele. Ihren … Animus. Ihre Quiddität.«
    »Jetzt komm aber, Gansey«, unterbrach Adam ihn zu Blues großer Erleichterung. »Kein Mensch weiß, was Quiddität heißt.«
    »Ihre Was heit, Adam. Was immer es auch ist, das einen Menschen zu dem macht, was er ist. Wenn Glendower vom Leichenweg entfernt würde, dann, glaube ich, würde der Zauber, der ihn weiterschlafen lässt, gebrochen.«
    »Im Klartext meinst du also, dass er endgültig sterben würde, sobald er sich nicht mehr auf der Ley-Linie befände«, sagte sie.
    »Ja«, stimmte Gansey zu. Die Lichter an seinem Gerät blinkten jetzt heftiger und führten sie so über den Schnabel des Raben zu den Bäumen hinüber, wo bereits Ronan stand. Blue hob die Arme, damit die Blütenstände der Gräser nicht gegen ihre Handrücken schlugen. An manchen Stellen reichten sie ihr bis zur Hüfte.
    Sie fragte: »Und warum haben sie ihn nicht einfach in Wales gelassen? Ich meine, eigentlich wollen sie doch, dass er dort wieder aufwacht und neue Heldentaten vollbringt, oder?«
    »Es gab einen Aufstand und er galt als Verräter der englischen Krone«, sagte Gansey. Die beiläufige Art, wie er die Geschichte begann, während er durch das Gras schritt und das Messgerät im Auge behielt, verriet Blue, dass er sie schon viele Male zuvor erzählt hatte. »Glendower hatte jahrelang gegen die Engländer gekämpft, hässliche Kämpfe, in die beiderseits viele Adelsfamilien verstrickt waren, auf deren Gefolgschaft nicht immer Verlass war. Der walisische Widerstand scheiterte. Glendower verschwand. Hätten die Engländer erfahren, wo er war, egal, ob tot oder lebendig, dann hätten sie seine Leiche niemals so behandelt, wie die Waliser es sich wünschten. Schon mal von Hängen, Strecken und Vierteilen gehört?«
    »Ist das in etwa so angenehm wie ein Gespräch mit Ronan?«, fragte Blue.
    Gansey sah zu Ronans kleiner, undeutlicher Gestalt zwischen den Bäumen hinüber. Adam unterdrückte deutlich hörbar ein Lachen.
    »Kommt drauf an, ob Ronan nüchtern ist«, antwortete Gansey.
    »Was macht er da überhaupt?«, wollte Adam wissen.
    »Pinkeln.«
    »Typisch Lynch, einen solchen Ort keine fünf Minuten, nachdem er hier angekommen ist, zu entweihen.«
    »Entweihen? Er markiert doch nur sein Revier.«
    »Dann muss ihm mehr von Virginia gehören als deinem Vater.«
    »Wenn ich recht darüber nachdenke, kann ich mich nicht erinnern, dass er jemals eine normale Toilette benutzt hat.«
    Das alles kam Blue ziemlich macho- und Aglionby-mäßig vor, wie sie einander beim Nachnamen nannten und Witze übers Freiluftpinkeln rissen. Noch dazu fürchtete sie, dass es ziemlich lange so weitergehen könnte, also brachte sie das Gespräch schnell zurück auf Glendower. »Und da haben sie sich wirklich diese ganze Arbeit gemacht, nur um seine Leiche zu verstecken?«
    »Na ja, siehe Ned Kelly«, sagte Gansey.
    Er traf diese unverständliche Aussage derart sachlich, dass Blue sich mit einem Schlag furchtbar dumm vorkam, so als ließe der Unterricht an öffentlichen Schulen tatsächlich zu wünschen übrig.
    Adam jedoch bemerkte mit einem Seitenblick auf Blue: »Gansey, es weiß auch kein Mensch, wer Ned Kelly ist.«
    »Ehrlich nicht?«, fragte Gansey ernsthaft verblüfft und bewies damit, dass Adam zuvor recht gehabt hatte – er wollte wirklich nicht herablassend wirken. »Das war ein australischer Straßenräuber. Nachdem die Briten ihn geschnappt hatten, haben sie mit seiner Leiche die furchtbarsten Sachen angestellt. Ich glaube, der Polizeichef hat seinen Kopf eine Weile als Briefbeschwerer benutzt. Jetzt stell dir mal vor, was Glendowers Feinde mit ihm gemacht hätten! Wenn die Waliser auch nur die geringste Chance haben wollten, dass Glendower

Weitere Kostenlose Bücher