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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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mathematisch in ihrer Perfektion, makellos in ihrer Symmetrie. Als Letztes aber hatte ihn ihre emotionale Wucht getroffen, tief im Innersten, ein mysteriöser, roher Schmerz, der einfach nicht verschwinden wollte. Gansey hatte das Gefühl gehabt, nicht weiterleben zu können, solange er nicht wusste, ob die Linien eine Bedeutung hatten.
    Dies war der einzige Aspekt seiner Suche nach Glendower, den er nie richtig erklären konnte.
    »Gansey«, sagte Adam. »Was ist das da unten?«
    Der Helikopter verlangsamte seinen Flug und alle vier Passagiere reckten die Hälse. Mittlerweile waren sie tief in den Bergen und der Boden unter ihnen wölbte sich ihnen entgegen. Ringsum stiegen geheimnisvoll smaragdfarbene Wälder an, die sich wie ein dunkles Meer über die Berghänge ergossen. Zwischen all den Böschungen und Wasserläufen jedoch erstreckte sich als schräg liegender grüner Teppich eine Wiese, die von blassen Linien durchzogen wurde.
    »Ergeben sie ein Muster?«, fragte er. »Helen, halt an. Halt an!«
    »Hältst du das Ding hier für ein Fahrrad, oder was?«, schimpfte Helen, aber der Helikopter wurde merklich langsamer.
    »Guckt mal«, sagte Adam. »Da, das ist doch ein Flügel. Und das da ist ein Schnabel. Ein Vogel?«
    »Nein«, widersprach Ronan mit kalter, ruhiger Stimme. »Das ist nicht einfach irgendein Vogel. Es ist ein Rabe.«
    Langsam erkannte auch Gansey den Umriss, der aus dem üppigen Gras hervortrat: Ja, es war ein Vogel, den Hals nach hinten gebogen, die Flügel angelegt wie eine Abbildung aus einem Buch. Seine Schwanzfedern waren gespreizt, die Krallen vereinfacht dargestellt.
    Ronan hatte recht. Selbst in dieser stilisierten Form waren die Wölbung des Kopfes, die großzügige Krümmung des Schnabels und die geplusterten Halsfedern unverwechselbar als die eines Raben zu erkennen.
    Ein Kribbeln lief über Ganseys Haut.
    »Bring den Helikopter runter«, sagte er sofort.
    »Ich kann nicht auf Privatgelände landen«, erwiderte Helen.
    Gansey warf seiner Schwester einen flehentlichen Blick zu. Er musste sich die Koordinaten dieses Ortes aufschreiben. Er musste ein Foto für sein Archiv machen. Er musste eine Skizze in seinem Notizbuch anfertigen. Aber mehr als alles andere musste er die Linien berühren, aus denen der Vogel bestand, damit er in seinem Kopf real wurde. »Helen, nur zwei Sekunden.«
    Der Blick, mit dem sie seinen erwiderte, war wissend, die Art von herablassendem Blick, der oft Streit zwischen ihnen ausgelöst hatte, als Gansey noch jünger und leichter zu provozieren gewesen war. »Wenn der Besitzer mich hier erwischt und beschließt, mich zu verklagen, kann ich meinen Pilotenschein verlieren.«
    »Zwei Sekunden. Du hast es doch gesehen, hier ist meilenweit keiner, kein Haus, kein gar nichts.«
    Helen sah ihn nur an. »Ich muss in zwei Stunden bei Mom und Dad sein.«
    »Zwei Sekunden.«
    Schließlich verdrehte sie die Augen und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Dann wandte sie sich kopfschüttelnd wieder ihren Schaltern zu.
    »Danke, Helen«, sagte Adam.
    »Zwei Sekunden«, wiederholte sie grimmig. »Wenn ihr dann nicht fertig seid, fliege ich ohne euch.«
    Der Helikopter landete knapp fünf Meter entfernt vom Herzen des fremdartigen Raben.

23
    S obald der Helikopter Bodenkontakt hatte, sprang Gansey aus der Kabine und marschierte mit Ronan an seiner Seite los durch das oberschenkelhohe Gras, als gehörte das Gelände ihm. Durch die offene Helikoptertür hörte Blue ihn mit jemandem namens Noah telefonieren und die Koordinaten der Wiese durchgeben. Er strotzte vor Energie und Kraft, ein König bei der Begehung seines Schlosses.
    Blue hingegen war nicht ganz so schnell. Aus unterschiedlichen Gründen fühlten sich ihre Knie nach dem Flug wie Pudding an. Sie war nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, Gansey nicht die ganze Wahrheit über jenen Abend zu erzählen, und sie fürchtete, dass Ronan versuchen würde, mehr aus ihr herauszukriegen.
    Doch es roch herrlich auf dieser Wiese – nach Gras und Bäumen und, irgendwo, auch nach Wasser, und von allem so unglaublich viel. Hier könnte sie ziemlich zufrieden leben, dachte Blue bei sich. Neben ihr beschirmte Adam mit der Hand seine Augen. Er wirkte, als gehörte er hierher. Sein Haar hatte dasselbe ausgeblichene Braun wie die trockenen Grasspitzen und er sah noch besser aus, als Blue ihn im Gedächtnis gehabt hatte. Sie dachte daran, wie Adam zuvor ihre Hand genommen hatte und wie sehr es ihr gefallen würde, wenn er es

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