Wen der Rabe ruft (German Edition)
wieder täte.
Ziemlich überrascht bemerkte Adam: »Hier unten sind die Linien ja fast gar nicht zu erkennen.« Und natürlich hatte er recht. Obwohl Blue den Raben gerade bei der Landung noch gesehen hatte, lag die geografische Besonderheit, die seine Gestalt geformt hatte – was immer es auch sein mochte –, nun im Verborgenen. »Ich finde Fliegen immer noch schrecklich. Tut mir leid, das mit Ronan.«
»Ach, das Fliegen war gar nicht so übel«, sagte Blue. Tatsächlich hatte es ihr, abgesehen von dem Intermezzo mit Ronan, sogar gefallen – dieses Gefühl, in einer ziemlich lauten Blase vor sich hin zu schweben, in der alle Richtungen möglich waren. »Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt. Man muss einfach die Kontrolle abgeben, stimmt’s? Dann geht es. Na ja, und Ronan …«
»Er kann ein richtiger Pitbull sein«, sagte Adam.
»Ich kenne ein paar sehr freundliche Pitbulls.« Einer der Hunde, mit denen Blue jede Woche spazieren ging, war ein Pitbull, gefleckt wie eine Kuh und mit einem so netten Lächeln, wie man es sich an einem Vierbeiner nur vorstellen konnte.
»Tja, Ronan ist eher einer von der Sorte, wie man sie in den Nachrichten sieht. Gansey versucht noch, ihn zu erziehen.«
»Welch edelmütiges Unterfangen.«
»Das hilft ihm, sich weniger mies wegen seiner Ganseyhaftigkeit zu fühlen.«
Das bezweifelte Blue nicht im Geringsten. »Er kann schon ziemlich herablassend sein.«
Adam sah zu Boden. »Er meint es nicht so. Das kommt einfach von dem vielen blauen Blut in seinen Adern.«
Er wollte gerade noch etwas hinzufügen, als er von einem Schrei unterbrochen wurde.
»Hörst du mich, Glendower? Ich werde dich finden!« Laut und überschwänglich hallte Ganseys Stimme von den baumbestandenen Hängen rund um die Wiese wider. Adam und Blue sahen ihn mitten auf einer blassgrauen Wegschneise stehen, die Arme ausgestreckt, den Kopf beim Rufen in den Nacken gelegt. Adams Mund formte sich zu einem lautlosen Lachen.
Gansey grinste sie beide an. Wenn er so war, konnte man ihm kaum widerstehen: Mit seinen zwei Reihen glänzender weißer Zähne wirkte er wie ein Bild aus einer Collegebroschüre.
»Austernschalen«, sagte er und bückte sich, um eins der hellen Dinger aufzuheben, die den Weg formten. Das Bruchstück war reinweiß, seine Ränder stumpf und abgeschliffen. »Daraus besteht der Rabe. Wie die Straßen unten in den Überflutungsgebieten. Austernschalen auf nacktem Fels. Na, was sagt ihr dazu?«
»Ich sage, da musste aber jemand eine Menge Austernschalen von der Küste herschleppen«, antwortete Adam. »Und ich sage, Glendower muss auch von der Küste her gekommen sein.«
Gansey deutete zustimmend auf Adam.
Blue stemmte die Hände in die Hüften. »Ihr glaubt also, die haben Glendowers Leiche in Wales in ein Schiff verfrachtet, sind mit ihm rüber nach Virginia gesegelt und haben ihn dann hier hoch in die Berge gebracht. Warum?«
»Energie«, entgegnete Gansey. Er wühlte in seiner Tasche und zog einen rechteckigen schwarzen Gegenstand hervor, der an eine Miniatur-Autobatterie erinnerte.
»Was ist das?«, fragte Blue. »Sieht teuer aus.«
Er fummelte an den Schaltern des Geräts herum und erklärte: »Ein Messgerät für elektromagnetische Frequenzen. Damit zeichnet man Energieniveaus auf. Manche Leute gehen mit so was auf Geisterjagd. In der Nähe übersinnlicher Wesen soll es ziemlich hoch ausschlagen. Aber auch, wenn man sich in der Nähe einer Energiequelle befindet. Zum Beispiel einer Ley-Linie.«
Blue bedachte das Gerät mit einem finsteren Blick. So ein Kästchen, das angeblich Magie registrierte, schien eine Beleidigung sowohl für seinen Besitzer als auch für die Magie zu sein. »Und natürlich hast du so ein elektromajestätisches Dingsbums. Hat ja jeder.«
Gansey hielt das Gerät über seinen Kopf, als wollte er damit Außerirdische rufen. »Wie, du findest das nicht normal?«
Sie wusste, wie gern er von ihr hören wollte, dass er nicht normal war, also sagte sie: »Na ja, ich bin mir sicher, in gewissen Kreisen ist es völlig normal.«
Er wirkte ein wenig gekränkt, doch der Großteil seiner Aufmerksamkeit war auf das Messgerät gerichtet, an dem zwei schwache rote Lämpchen aufleuchteten. »Zu diesen Kreisen würde ich liebend gern gehören«, bemerkte er. »Also, wie gesagt, Energie. Eins der Synonyme für Ley-Linie ist Leichen…«
»Leichenweg«, unterbrach Blue ihn. »Ich weiß.«
Er blickte großmütig erfreut, wie ein Lehrer angesichts der korrekten Antwort
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