Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
»Natürlich«, sagte sie und hoffte nur, dass das Abendessen sie ein wenig beleben würde.
Doch nachdem die Jungen mit den hektisch umherwuselnden Hunden losgezogen waren, merkte sie, dass sie eigentlich gar keinen Hunger hatte. Stattdessen goss sie sich ein Glas Weißwein aus dem Kühlschrank ein, legte eine CD in den Player in der Küche, ließ sich auf einen Stuhl sinken und kickte ihre Schuhe in die Ecke.
Sie schloss die Augen und versuchte den Streit mit ihrem Vater und die Sorge um ihre Mutter auszublenden.Während sie die Beine ausstreckte und mit den Zehen wackelte, nahm sie einen Schluck Wein und behielt ihn eine Weile im Mund, um das ganze Aroma auszukosten.
Nach einer Weile begann die Musik ihre Wirkung zu tun. Sie hatte Barb Jungr aufgelegt, eine ihrer Lieblingssängerinnen, aber diesmal war es nicht Jungrs rauchige Stimme, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern die perlenden Töne der sparsamen Klavierbegleitung.
Gott, wie lange war es her, dass sie zuletzt Klavier gespielt hatte? Eine Stunde nach der anderen hatte sie absagen müssen, und ohne diese erzwungene Disziplin hatte sie immer seltener geübt. Wie hatte sie zulassen können, dass sie etwas, woran ihr so viel lag, so vernachlässigte?
Aber der Job, Duncan, die Jungs und die Hunde – wie um sie
an seine Anwesenheit zu erinnern, wählte Sid just diesen Moment, um in die Küche zu tapsen und auf den Tisch zu springen – und der Kater, dachte Gemma, das alles zusammen schien ihr kaum Zeit für sich selbst zu lassen.
Und doch, obwohl ihr Leben so ausgefüllt war, dass sie kaum alles unter einen Hut bringen konnte, fühlte sie nach wie vor den Schmerz des Verlusts durch ihre Fehlgeburt, und die Auflistung der praktischen Schwierigkeiten, die ein drittes Kind für sie beide bedeutet hätte, konnte daran nicht das Geringste ändern.
Reiner Egoismus, sagte sie sich streng. Und in letzter Zeit hatte sie viel zu viel nur an sich selbst gedacht.
Das brachte sie auf einen Gedanken. Sofort stellte sie ihr Glas ab und griff stattdessen zum Handy, um Erikas Nummer zu wählen. Es war allerhöchste Zeit, dass sie sich selbst einmal nach Erika erkundigte, anstatt immer nur Kit als Stellvertreter zu schicken, und sie hatte einige Fragen, die sie dringend loswerden musste.
Aber es läutete und läutete, ohne dass Erika sich meldete. Gemma trank noch einen Schluck Wein und versuchte es dann wieder, doch immer noch ging niemand dran, auch nicht der Anrufbeantworter. Obwohl Gemma wusste, dass Erika manchmal vergaß, den AB einzuschalten, frustrierte es sie, dass sie keine Nachricht hinterlassen konnte, und es beunruhigte sie auch ein wenig.
Sie fragte sich gerade, wie sie ihre so selbstständige Freundin dazu überreden könnte, sich ein Handy anzuschaffen, als ihr eigenes klingelte. Sie fuhr zusammen, verschüttete ihren Wein und meldete sich ein wenig atemlos.
Doch es war nicht Erika, sondern Melody Talbot.
»Chefin«, sagte Melody, »bevor Sie fragen – ja, ich bin noch im Büro, aber jetzt gehe ich wirklich nach Hause.
Ich bin da auf etwas gestoßen, was ich ziemlich bemerkenswert
fand. Ich habe diese Zeitungen durchgesehen, die ich für Sie zusammenstellen sollte. Wussten Sie, dass an dem Tag, als David Rosenthal ermordet wurde, ein Artikel von Erika Rosenthal im Guardian erschienen ist?«
Erika schwebte durch den Tag, als wäre sie nur durch einen hauchdünnen Faden mit der Erde verbunden.
Sie stand zur gewohnten Zeit auf, obwohl sie vom Kaufhaus Whiteley’s, wo sie inzwischen in derVerwaltung arbeitete, wegen desTrauerfalls ein paar Tage Urlaub bekommen hatte.Als sie den Tee aufsetzte, stellte sie fest, dass sie Heißhunger hatte, und machte sich zum Frühstück zwei Scheiben Toast und zwei weich gekochte Eier – ein unerhörter Luxus, da die Lebensmittel schließlich immer noch rationiert waren, doch der Hunger zerstreute alle ihre Bedenken. Und wenn sie für den Rest der Woche nichts mehr zu essen hätte – darüber konnte und wollte sie sich jetzt keine Gedanken machen.
Mit Teller und Tasse ging sie hinaus in den Garten und setzte sich auf die Steinmauer, an die eine Stelle, zu der die Morgensonne durchdrang. Trotz ihres Hungers aß sie langsam, genoss den Geschmack und die Konsistenz jedes Bissens und jedes Schlucks, als wäre es das erste Mal – die buttrige Fülle des Eigelbs, die knusprige Frische des Toastbrots, die erdige Bitterkeit des Tees.
Und sie, die so lange in ihrer eigenen Welt gelebt hatte, stellte fest, dass
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