Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
sie jeden Gedanken, jeden Eindruck, jeden Augenblick der sinnlichen Erfahrung mit Gavin teilen wollte. Er würde sie verstehen. Er würde wissen, was sie meinte, was sie fühlte, fast ehe sie es selbst wusste, und die Erkenntnis, wie vollkommen das alles war, trieb ihr die Tränen in die Augen, die sie um David nicht geweint hatte.
David. Sie wusste, dass irgendwo in ihrem Herzen ein Kern der Trauer um diesen Mann eingeschlossen war, mit dem sie fast fünfzehn Jahre zusammengelebt hatte. Und sie wusste auch, dass sie am meisten um das trauern würde, was zwischen ihnen hätte sein können, um die verpassten Chancen ihrer langen, unfruchtbaren Ehejahre.
Aber jetzt war dies alles seltsam weit weg, als hätte eine Fremde dieses Leben gelebt oder als wäre es eine ferne Erinnerung, wie etwas, das man durch ein umgedrehtes Teleskop betrachtet. Sie hatte David schon vor langer Zeit verloren, und sie wusste heute, dass dieTrauer um diesen Verlust untrennbar mit ihrem Leben verwoben gewesen war.
Während sie das Geschirr spülte und sich an die Erledigung ihrer täglichen Pflichten machte, fragte sie sich, ob sie sich irgendwann einmal schuldig fühlen würde, weil sie so überstürzt mit einem anderen Mann ins Bett gegangen war.Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihre Verbindung mit Gavin Hoxley jemals als einen Akt der Untreue empfinden würde, und sie wollte nicht über die Konsequenzen nachdenken, genauso wenig wie über die Hindernisse, die zwischen ihnen standen.
Nicht jetzt. Noch nicht. Nichts konnte ihr diesen Moment, diese Stunde, diesen Tag wegnehmen. Sie hatte ihr ganzes Leben lang darauf gewartet.
Gemma hatte das Riesen-Leiterspiel überstanden, hatte Toby ins Bett gebracht, ein Bad genommen und Kit, der oben in seinem Zimmer las, gute Nacht gesagt, und noch immer hatte Kincaid nicht angerufen. Sie versuchte ihn auf seinem Handy zu erreichen, doch es schaltete sich sofort die Mailbox an, und sie hinterließ keine Nachricht. Es musste etwas dazwischengekommen sein, und er würde ihr Bescheid sagen, sobald er konnte.
Und auch Erika hatte sie noch nicht erreichen können, obwohl sie es immer wieder versucht hatte, bis sie fand, dass sie es wegen der späten Stunde nicht mehr wagen konnte. Sie sagte sich, dass sie sicher bloß Gespenster sah, dass Erika jedes Recht hatte, abends auszugehen oder nicht ans Telefon zu gehen, wann immer ihr danach war. Aber alle vernünftigen Erklärungen konnten die hartnäckige leise Stimme der Sorge nicht zum Schweigen bringen.
Gab es irgendeinen Zusammenhang zwischen Erikas Artikel im Guardian und David Rosenthals Tod? Aber Melody hatte ihr
gesagt, dass es sich um einen Meinungsartikel handelte, etwas über die sich wandelnde Rolle der Frau in der Arbeitswelt der Nachkriegszeit, was so sehr nach Erika klang, dass Gemma lächeln musste. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass mehr dahintersteckte als ein Zufall. Aber was ihr einfach keine Ruhe ließ, war die Tatsache, dass die zwei anderen Menschen, die etwas mit Erikas Brosche zu tun gehabt hatten, jetzt beide tot waren.
In Pyjama und Bademantel ging Gemma nach unten und klimperte ruhelos auf dem Klavier herum. Sie versuchte eine Melodie zu spielen, die in ihrem Kopf herumspukte, doch ihre Finger schienen keine Verbindung mit ihrem Gehirn zu haben. Nach ein paar misstönenden Noten gab sie es auf und schlenderte in die Küche. Kurz liebäugelte sie mit dem Rest Wein im Kühlschrank, doch er hatte seinen Reiz verloren.
Stattdessen goss sie Milch in einen Becher und stellte ihn kurz in die Mikrowelle, um sich dann mit dem dampfenden Getränk an den Tisch zu setzen. Sie wollte klarer denken, und der Wein hätte das genaue Gegenteil bewirkt.
Geordie und Tess waren oben bei Kit geblieben, aber Sid, der heute anscheinend besonders anhänglich war, hatte sich an ihre Fersen geheftet. Jetzt sprang er auf den Tisch, drapierte elegant den Schwanz um die Pfoten und starrte sie mit seinen grünen Augen unverwandt an. Und Gemma scheuchte ihn ausnahmsweise nicht weg, sondern kraulte ihn unterm Kinn, bis seine Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten und er zu schnurren begann. »Du weißt alles, nicht wahr, alter Knabe?«, sagte sie leise. Beim Klang ihrer Stimme blinzelte der Kater und rollte seinen Schwanz ein wenig enger zusammen, als ob er sein Wohlbehagen ganz auskosten wollte.
Während Gemma sich allmählich entspannte, gingen ihr nacheinander all die Menschen durch den Kopf, die ihr Sorgen bereiteten. Ihre
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