Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
Mädchen zu tun?«
»Möglich wäre es«, erwiderte Gemma. »Ich fange wohl besser ganz vorne an.« Nach kurzem Bedenken sagte sie: »Oder noch besser: Ich möchte, dass Sie ganz vorne anfangen.« Sie trank einen
Schluck von dem lauwarmen Leitungswasser. »Erika, warum haben Sie mir nie erzählt, dass Ihr Mann ermordet wurde?«
»David?«
»Ja – oder waren Sie mehr als einmal verheiratet?«, entgegnete Gemma ein wenig schroff, und sie merkte, dass sie sich durch Erikas Schweigen gekränkt fühlte.
Erika ließ sich auf den Stuhl gegenüber von Gemma sinken und sagte: »Ich bin einfach nie auf die Idee gekommen. Es ist so lange her, und ich dachte mir, dieser Teil meines Lebens ist doch längst passé – wieso sollte ich Sie damit belasten? Und wieso sollte das heute noch irgendeinen Menschen interessieren?«
»Was meinen Sie, hat Ihr Mann an dem Tag, als er ermordet wurde, den Guardian gelesen?«
»Meinen Artikel.« Erika schloss die Augen. »Ja. David dürfte die Zeitung gekauft haben. Es war meine ersteVeröffentlichung, und David war pflichtbewusst, wenn auch nicht wirklich interessiert. Aber ich verstehe immer noch nicht.«
Gemma zog den Ausdruck, den Melody ihr gemacht hatte, aus der Tasche und schob ihn über den Tisch.
»Du lieber Gott.« Erika starrte das Blatt an. »Wo haben Sie … Wie sind Sie …«
»Das ist am gleichen Tag im Guardian erschienen. Auf den Gesellschaftsseiten.«
»Aber das …« Sie warf noch einen Blick auf das Foto und schob es von sich, als wäre es verseucht. »Das ist Joseph Müller. Warum steht da ein anderer Name?« Sie war plötzlich weiß wie die Lilien in der Vase auf dem Küchentisch. »Ich hätte nie gedacht, dass ich dieses Gesicht noch einmal sehen würde.«
»Wer war er, Erika? Woher kannten Sie ihn?«
»Er war doch Deutscher«, beharrte Erika mit zitternder Stimme. »Was hat er in einer englischen Zeitung verloren, mit einem englischen Namen?«
»Er war Engländer«, versicherte Gemma ihr. »Sein Name ist
Joss Miller. Er war Finanzier und Kunstsammler, und er ist erst vor zwei Jahren gestorben.«
Erika starrte sie an, ihre Züge von Abscheu verzerrt. Dann wandte sie sich ab und spuckte aus. »Das sind Lügen, alles Lügen. Dieser Mann war Deutscher, und er war ein Menschenhändler. Er hat sich von Juden Geld geben lassen und ihnen versprochen, sie sicher aus Deutschland herauszubringen. Und wenn wir nichts von den anderen hörten, denen er angeblich zur Flucht verholfen hatte, dann nahmen wir an, es läge daran, dass sie uns nicht zu schreiben wagten. Aber jetzt frage ich mich, ob jemals auch nur ein Jude, dessen Geld er eingesteckt hatte, aus Deutschland herausgekommen ist.«
»Aber Sie sind ja herausgekommen«, meinte Gemma stirnrunzelnd.
»Nur durch die Gnade Gottes und die Zivilcourage eines deutschen Bauern. Ich bin nach dem Krieg noch einmal hingefahren und habe versucht, den Bauernhof zu finden, aber es ist mir nicht gelungen.Vielleicht wurde er zerstört.Vielleicht hat mich auch meine Erinnerung getrogen. Den Namen der Familie habe ich nie erfahren, aber ich fürchte, sie können nicht ungestraft davongekommen sein.«
»Wofür sollte man sie denn bestraft haben? Ich verstehe nicht.«
»Nein. Das können Sie auch nicht.« Erika schien auf ihrem Stuhl in sich zusammenzusinken. »Aber ich muss es Ihnen wohl erzählen, weil es etwas mit der Brosche zu tun hat; und wenn mein Schweigen in irgendeiner Weise für den Tod dieses Mädchens verantwortlich ist …«
Gemma biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, Erika von Harry Pevensey zu erzählen, aber jetzt war nicht der passende Zeitpunkt. »Bitte«, sagte sie, indem sie sich vorbeugte und Erikas Hand berührte. »Was ist damals passiert?«
Erika drückte Gemmas Hand und ließ ihre dann in den Schoß fallen. Ihr Blick schien ins Leere zu gehen. Nach einer Weile begann sie zu sprechen, so leise, dass Gemma sich anstrengen musste, um sie zu verstehen.
»Ich habe Kit schon das eine oder andere erzählt. Über die Arbeit meines Vaters und dass die Reichen und Mächtigen in Deutschland zu seinen Kunden zählten. Und dass mein Vater nicht glauben wollte, dass der grassierende Nazi-Wahnsinn irgendwann auch uns in Mitleidenschaft ziehen könnte.Aber spätestens 1938 wurde auch meinem Vater klar, dass die Dinge außer Kontrolle gerieten, dass es in diesem Land für keinen Juden mehr irgendwelche Garantien oder Sicherheiten geben konnte. Und ich war inzwischen mit David
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