Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
verheiratet.
David hatte als Dozent für Philosophie an der Universität gelehrt – wir Deutschen haben immer große Stücke auf die Philosophie gehalten, was uns am Ende herzlich wenig geholfen hat -, und nachdem die Nazis die Juden von sämtlichen Lehrtätigkeiten an deutschen Universitäten ausgeschlossen hatten, gab David seinen Studenten Privatvorlesungen.Viele jüdische Professoren taten das – es war eine Möglichkeit, die Beschränkungen zu umgehen.«
Gemma dachte an den Altersunterschied zwischen Erika und ihrem Mann. »Sie waren Davids Studentin?«
»Ja.« Ein angedeutetes Lächeln spielte um Erikas Mundwinkel. »Die uralte Geschichte. Naives junges Mädchen verliebt sich in weisen älteren Mann. Und David war ein Radikaler, der das Hitler-Regime offen kritisierte, und seine Unerschrockenheit machte ihn nur umso attraktiver. Was ihn betrifft, nehme ich an, dass er sich durch mein Interesse an ihm geschmeichelt fühlte, und er sah wohl seine Rolle darin, meine politische und intellektuelle Erziehung voranzutreiben. Ich glaube nicht, dass er je in mich verliebt war, aber das wusste ich damals natürlich nicht.
Aber Davids offene Kritik am Regime verstärkte noch die Sorge meines Vaters um unsere Sicherheit, und so traf er Vorkehrungen, um uns außer Landes zu bringen. Es würde teuer werden, sagte man uns, aber es gebe da einen Mann, der uns nach Holland und von dort nach England schaffen würde. Mein Vater sagte, wir sollten vorausfahren und er würde nachkommen, sobald er uns in Sicherheit wüsste.
Da war noch ein anderes, älteres Paar, Freunde meines Vaters, die mit uns kommen sollten. Sie bürgten für diesen Müller« – Erika vermied es, das Foto anzusehen -, »und sie bezahlten ihn fürstlich, wie auch mein Vater.
Beim Abschied gab mein Vater mir die Diamantbrosche, das letzte Stück, das er gefertigt hatte, und riet mir, sie gut versteckt zu halten. Nicht einmal David wusste davon.«
Jetzt blickte sie auf und sah Gemma in die Augen. »Er war ein großer, kräftiger und gut aussehender Mann, dieser Müller, und er sprach mit Berliner Akzent. Er sagte, er habe gute Beziehungen. Er hatte einen kleinen Lieferwagen mit der Aufschrift eines Teppichgeschäfts, und er besaß Papiere, die ihn und seinen Helfer als Vertreter auswiesen.Wir fuhren auf der Ladefläche mit und wurden angewiesen, uns unter den Teppichen zu verstecken, wenn wir angehalten würden.
Die erste Nacht machten wir Halt bei einem Hotel für Geschäftsreisende. Wir durften uns nur in den dunkelsten Nachtstunden herauswagen, um unsere Notdurft zu verrichten, und als wir wieder im Wagen waren, bekamen wir ein wenig Schwarzbrot zu essen. David und der andere Mann – er hieß Saul – fingen an, sich zu beschweren, doch als sie Müllers Miene sahen, verstummten sie.«
Gemma musste den Drang unterdrücken, aufzustehen und in der Küche auf und ab zu gehen. Sie wagte nicht einmal, einen Schluck von ihrem Wasser zu trinken, aus Furcht, Erikas Erzählfluss zu unterbrechen.
»Die nächste Nacht«, fuhr Erika fort, »verbrachten wir auf einem Bauernhof ganz in der Nähe der holländischen Grenze. Wo genau, das habe ich wie gesagt nie in Erfahrung bringen können. Sobald es dunkel war, wurden wir aus dem Wagen geholt und in die Scheune gebracht.Wir dachten, sie würden uns etwas zu essen geben und uns im Stroh schlafen lassen.Aber das war nicht der Fall.« Erika hielt inne und verschränkte die Hände im Schoß, und Gemma hielt den Atem an, während sie gegen ihre aufsteigende Übelkeit ankämpfte.
Als Erika fortfuhr, war ihre Stimme nur noch ein schwaches Wispern. »Müller hatte eine Pistole. Sein Gehilfe hielt die anderen mit der Waffe in Schach, während Müller mich vergewaltigte. Dann hielt Müller die Pistole. Und dann machten sie das Gleiche mit Sarah. Als Saul sie daran zu hindern versuchte, erschoss Müller ihn. Und als sie mit Sarah fertig waren, erschoss er sie auch.«
Gemma schluckte. Der Geruch der Lilien war penetrant und unangenehm süß. Sie merkte, dass ihr die Tränen übers Gesicht liefen, doch Erikas Augen waren trocken. »Und David?«, brachte Gemma mit belegter Stimme hervor.
»David tat gar nichts«, antwortete Erika tonlos. »Müller fand die Brosche, als sie mich auszogen. Bis heute weiß ich nicht, warum sie uns damals nicht erschossen haben.Vielleicht waren sie noch nicht fertig mit mir.Vielleicht genossen sie es, David zu demütigen. Oder vielleicht dachten sie, nachdem sie die Brosche gefunden hatten,
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