Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
Hoxley.«
»Na schön.« Er nickte. »Fahren Sie fort.«
»Als er zum Abendessen nicht nach Hause kam, dachte ich, er wäre vielleicht zu einer Versammlung gegangen und hätte vergessen, mir Bescheid zu sagen. Aber er kam und kam nicht. Nicht an jenem Abend, auch gestern nicht, und heute Morgen ist er nicht zum Unterricht erschienen. Der Schulleiter hat mich an meiner Arbeitsstelle angerufen, und daraufhin bin ich hierhergekommen.«
Es könnte sich immer noch um einen Fall von »Ehemann auf Abwegen« handeln, sagte Gavin sich, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, dass ein Mann dieser Frau untreu werden würde. »Können Sie mir Ihren Mann beschreiben?«
Sie schloss die Augen, als ob sie sich sein Bild in Erinnerung riefe. »David … ist … um einiges älter als ich. Letzten Januar ist er achtundvierzig geworden. Er ist schlank – zu dünn – und nicht so groß wie Sie, Mr. Hoxley. Er hat blaue Augen und dunkles Haar, das allmählich grau wird. ›Salt and pepper‹ , sagt man, glaube ich, auf Englisch.«
Gavins Magen krampfte sich zusammen, teils vor angespannter Erwartung, teils, weil ihm vor dem nächsten Schritt graute. Jetzt gab es kein Ausweichen mehr. »Mrs. Rosenthal, trägt ihr Mann irgendwelchen Schmuck?«
Sie riss die Augen auf. »Schmuck? Nur einen kleinen Anhänger, ein Geschenk von einem Schüler. Es ist ein jüdisches Symbol, eine Mesusa, und er trägt es an einer Kette um den Hals.«
Sie musste die Wahrheit in seinem Gesicht gelesen haben, denn sie wurde plötzlich ganz still, so still, dass er einen Moment lang glaubte, sie habe aufgehört zu atmen; und diese Stille war erschütternder als alle Tränen, die er in seinen ganzen Dienstjahren erlebt hatte.
Dann holte sie tief Luft, wie eine Ertrinkende, die aus dem Wasser auftaucht, und sagte mit klarer, fester Stimme: »Mr. Hoxley, ich weiß, dass mein Mann tot ist. Hat er … Hat er sich … etwas angetan?«
Der Nachmittag zog sich hin. Durch die Hitze wurde es in Gemmas Büro immer stickiger, und wenn sie das Fenster öffnete,
wehte nur noch mehr warme, mit Abgasen vermischte Luft herein. Der Berg von Akten auf ihrem Schreibtisch schien überhaupt nicht kleiner zu werden, und sie kämpfte sich zunehmend genervt durch den Papierwust.
Als Melody hereinschaute, um zu sagen, dass sie jetzt nach Hause gehe, brummte sie nur gereizt: »Von mir aus«, doch dann rief sie sie zurück.
»Entschuldigung«, sagte sie. »Ich habe Kopfschmerzen.«
Melody, die immer noch so frisch und gepflegt aussah wie bei ihrem Besuch bei Harrowby’s, lehnte sich an den Türpfosten. »Sie sehnen das Gespräch mit Ihrer Bekannten nicht gerade herbei.«
»Stimmt.« Gemma seufzte. »Und ich …« Sie war drauf und dran, Melody von ihrer Mutter zu erzählen, doch dann zögerte sie. Sie wusste auch nicht mehr als heute Morgen. Durch ihren SMS-Wechsel mit Cyn hatte sie lediglich in Erfahrung gebracht, dass die Ärzte immer noch auf die Ergebnisse der Untersuchungen warteten. Sie schüttelte den Kopf und sagte schließlich ausweichend: »Ich werde es ihr wohl persönlich beibringen müssen. Hat ja keinen Sinn, es länger aufzuschieben.«
Melody betrachtete sie eingehend, den Kopf zur Seite geneigt, und Gemma wusste aus Erfahrung, was das bedeutete: Sie versuchte einzuschätzen, ob man ihr die Wahrheit sagte. Doch dann erwiderte sie lediglich: »Machen Sie Feierabend, Chefin. Die Dienstanweisungen können warten.« Grinsend fügte sie hinzu: »Bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, wenn Sie mich fragen.«
»Gut.Wir sehen uns also morgen«, entgegnete Gemma, schon ein wenig aufgemuntert.
Nachdem Melody gegangen war, schob sie den unerledigten Papierkram zu einem Stapel zusammen und knallte mit einer demonstrativen Geste ihren Kugelschreiber obendrauf. Dann rief sie zu Hause an. Niemand ging dran.
Kincaid hatte ihr gesagt, dass Kit nach der Schule zu Erika gehen wollte, aber inzwischen sollte er doch wohl zu Hause sein. Sie mochte es nicht, wenn sie Kit nicht erreichen konnte – irgendwann würden sie ihm wohl doch ein Handy kaufen müssen, auch wenn sie die Vorstellung von Teenagern, die per Daumendruck permanent mit der ganzen Welt in Verbindung standen, ziemlich furchtbar fand.
Dabei hatte Kit sich noch gar kein Handy gewünscht, und sie fragte sich, ob er vielleicht nicht genug Freunde hatte. Seit Weihnachten kam er etwas besser zurecht, jedenfalls in der Schule, aber immer noch schien er die meiste Zeit entweder allein zu Hause oder mit Wesley zu
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