Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
brachte ihre zarte, blasse Haut besonders gut zur Geltung. Ihr dunkles Haar war halblang und leicht gewellt; offenbar hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, sich eigens herauszuputzen, aber gerade das etwas Legere ihrer Erscheinung machte sie besonders attraktiv.
»Ja, ich bin Erika Rosenthal«, sagte sie mit leichtem Akzent und sah ihm in die Augen. »Was können Sie mir über meinen Mann sagen?«
Als er am Morgen gefragt hatte, ob er Erika besuchen dürfe, hatte es noch wie eine gute Idee geklungen, doch als Kit nach der Schule die Ladbroke Grove entlangschlich, kamen ihm erste Bedenken. Er war noch nie allein bei Erika gewesen, schon gar nicht ohne Einladung – und Erika schien ihm nicht zu den Leuten zu gehören, bei denen man einfach so hereinschneite.
Aber die Sache mit der verschwundenen Brosche, die plötzlich wieder aufgetaucht war, machte ihn neugierig, und er hatte keine Lust, nach Hause zu gehen und über seine Oma nachzudenken. So rückte er also seinen Rucksack zurecht und beschleunigte seinen Schritt, und bald schon bog er in die Arundel Gardens ein. Er fand es gut, dass Erika auf der Nordseite wohnte, wo die Häuser verputzt und in bunten Farben gestrichen waren – die schlichten, beigefarbenen Backsteinhäuser auf der Südseite schienen ihm längst nicht so einladend. Manchmal stellte er sich vor, dass die exotischeren Häuser in der Lansdowne Road mit ihren leuchtenden Farben und ihrer fast marokkanischen Atmosphäre ein bisschen auf die Nordseite von Arundel Gardens abgefärbt hatten.
Es war ein warmer Nachmittag, und er schwitzte, als er an Erikas Tür ankam. Der Wollstoff seines Schulblazers kratzte an Rücken und Schultern, wo ihn die Gurte des schweren Rucksacks drückten. Er nahm ihn ab und hielt ihn lässig in einer Hand, während er die Klingel drückte. Er nahm immer mehr Bücher mit nach Hause, als er eigentlich brauchte, aber er hatte nun einmal kein gutes Gefühl, wenn er sie in der Schule liegen ließ.
Der Summer tönte laut in der ansonsten stillen Wohnung, doch die Gegensprechanlage blieb stumm. Kit trat von einem Fuß auf den anderen und schwang seinen Rucksack, während er plötzlich alle möglichen Geräusche wahrnahm: In der Ferne bellte ein Hund, irgendwo in der Nähe knallte eine Autotür, ein kleines Kind weinte. Die Stiefmütterchen in den Blumenkästen
von Erikas Souterrainwohnung waren blass und ließen die Köpfe hängen, und der Vorgarten sah ziemlich ungepflegt aus.
Er war schon drauf und dran zu gehen, als die Tür plötzlich geöffnet wurde. Erika schaute erwartungsvoll heraus, und Kit hätte schwören können, dass er einen Anflug von Enttäuschung über ihre Züge huschen sah. Doch dann lächelte sie und sagte: »Kit! Was für eine nette Überraschung!«
»Sie sollten immer erst nachschauen, wer es ist, bevor Sie die Tür aufmachen.« Die Worte kamen ihm unwillkürlich über die Lippen, und er errötete, als ihm bewusst wurde, wie unhöflich diese Begrüßung war.
Doch Erika nickte nur. »Da hast du natürlich recht. Es ist nur so, dass ich dachte … Ich hatte eigentlich Gemma erwartet.Aber komm doch rein. Ich mache dir etwas Kühles zu trinken.«
Als Kit ihr in die Wohnung folgte, fiel ihm zum ersten Mal auf, dass er auf sie herabschaute. Er kam sich plötzlich riesig und unbeholfen vor und zog bewusst die Ellbogen ein, um nicht irgendwelche Bücher oder Figürchen von den Regalen im Flur zu stoßen.
Im Wohnzimmer lagen überall Bücher und Zeitungen herum, und auf demTisch neben Erikas Sessel standen drei benutzte Tassen. Kit, dem seine Mutter schon früh beigebracht hatte, sein Zimmer aufzuräumen, stapelte dieTassen und Untertassen und trug sie in die Küche. »Ich könnte Ihnen beim Abwasch helfen«, erbot er sich, als er die Arbeitsfläche und das winzige Spülbecken sah.
»Oh.« Erika hielt plötzlich inne, als hätte sie die Orientierung verloren. »Irgendwie gelingt es mir nicht, mich auf eine Sache zu konzentrieren.« Sie runzelte die Stirn. »Aber ich bin mir sicher, dass ich noch Ingwerlimonade im Kühlschrank habe, und im Gefrierfach sind Eiswürfel. Die Gläser …«
»Ich hol schon die Gläser.« Kit wusste, wo sie standen. Als Erika nicht protestierte, machte er ganz schnell selbst die Drinks und tat sogar noch einen Zweig Minze von dem Topf, der auf
dem Küchentisch stand, hinzu. Das Gartenfenster stand offen, und das laue Lüftchen, das hereinwehte, war wie eine Einladung. Kit, der an die ungewohnte Unordnung im Wohnzimmer dachte,
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