Wen küss ich und wenn ja, wie viele? - Lilias Tagebuch
mich.
»Warte, gleich«, sagte sie und leckte sich ihre blauen Finger ab.
»Rosinchen, los, komm schon. Bitte!«
Sie sah auf, spähte durch die Zweige und erblickte die anderen.
»Guck mal, Lilia, da sind …«
»Pssssst! Rosalie, los komm, bitte, ich flehe dich an. Ich möchte die jetzt nicht treffen.« Sie sah mich an und verstand. Vielleicht verstand sie auch nicht, aber sie gehorchte. Sie wischte sich die Hände am Gras ab, erhob sich leise, packte ihr Rad und schob es im Schutz des Busches auf den Weg zurück.
»Lilia?«
»Was?«
»Zuhause mach ich dir Zöpfe. Morgen hast du Locken, okay?«
»Okay«, sagte ich. Mir war jetzt alles egal.
Betreff: Ein Mann muss tun, was ein Mann eben tun muss
Datum: 23.05, 17:50 Uhr
Von: Tom Barker
An: Felix von Winning
He, Alter, was geht?
Was macht die Gitarre? Hast du schon einen neuen Song getextet? (Ich finde übrigens nicht, dass du über Frauen schreiben solltest. Nimm doch lieber ein Thema, von dem du was verstehst.)
Hier ist alles im grünen Bereich. Bio war ganz okay.
Sonst nichts Neues.
Oder, halt: Wir machen jetzt doch eine Party für Lilia. Am Freitag. Lilias Bruder hat mich darauf angesprochen und wir haben uns mit ihm getroffen. Es soll eine Überraschung sein, er meint, sie würde da wahnsinnig drauf abfahren. (Hätte ich nicht gedacht. So kann man sich täuschen.) Seine Eltern haben es erlaubt und zahlen Essen und Getränke. Wir dürfen sogar im Wohnzimmer feiern.
Cool. Meine Mutter würde mir was husten, wenn ich ihr mit so einer Idee käme.
Mensch, dass du dann nicht da bist! Kannst du nicht Hafturlaub beantragen? Wegen guter Führung?
Hey, ich muss dich was fragen, aber das geht nur persönlich. Ruf mich mal an!
Bis bald
Tom
Dienstag, 24. Mai
Überlebte Unterrichtsstunden: 0,5 von 8. Flirts: 0. Unmoralische Angebote: 1 (Von Tom. Will meinen Radiergummi essen, wenn ich ihm einen Euro dafür gebe.)
Verluste: 2 (1 Radiergummi, 1 Euro. Hätte nie gedacht, dass Tom das tut!)
8.15 Uhr Physik. Schreibe Tagebuch, um diese Stunde zu überleben. Habe mal gehört: Wer schreibt, der bleibt. Und da ist ja was dran. Wer schreibt, kann nicht weglaufen. Also schreibe ich und schreibe und schreibe und schreibe, obwohl ich am liebsten fliehen würde.
Herr Raabe erklärt gerade Trägheit. Irgendwas mit Geschwindigkeit und Rotation und Richtungswechseln. Kenn ich, beschreibt ganz gut meinen Zustand: Mein Gehirn ist langsamer als das Unterrichtstempo und wird bei unvorhergesehenen thematischen Richtungswechseln durch Schleuderkraft aus der Bahn geworfen. Wie jetzt zum Beispiel.
Originaltext Raabe: »F und A sind proportional zueinander.«
Fabi, von hinten: »Was ist proportional?«
Herr Raabe, lebhaft: »Wenn einer einen Döner kauft, kostet das – äh, Thomas, bitte, lassen Sie das – also, kostet das, äh,ein Geld. Und wenn zwei Leute je zwei Döner kaufen kostet das …«
»Zwei Gelde«, schreit Fabi.
Herr Raabe sieht aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
»Fabi, du Noob, das heißt Gelder«, sagt Tom mit seiner tiefen Bassstimme.
»Vier«, sagt Herr Raabe kraftlos. Er tockert mit der Kreide auf dem Pult herum, aber ich glaube, er weiß gar nicht, dass er das tut. »Vier. Vier. Vier. Döner und Geldbetrag steigen proportional.«
»Wie jetzt? Heißt es Gelder oder Gelde?«, fragt Fabi.
»Proportional«, haucht Herr Raabe.
Tom brummt wie eine Biene, um nicht in Lachen auszubrechen. Und schon bin ich bei der Sache mit der Biene und der Blume und die Trägheit ist mir egal. Ob Dana recht hat? Sie sagt, so doof sei der Vergleich von Männlein und Weiblein mit Biene und Blume gar nicht. Man muss als Mädchen bunte Blütenblätter anhaben und gut riechen und einfach nur so in der Sonne stehen und warten, dann kommen die Jungs schon angeflogen. Bei ihr klappt das vielleicht. Ich kriege dabei höchstens einen Sonnenbrand.
Aber ehrlich gesagt halte ich Danas Theorie sowieso für Quatsch. Biene und Blume??? Wenn man das mal biologisch betrachtet, hinkt dieser Vergleich. Ich mein, die Biene will ja gar nichts von der Blume, die will nur Nahrung für ihre Kinder. Und diese miese Blume nutzt die Not der Biene aus, lockt sie mit Düften an und instrumentalisiert das arme Tier für Fortpflanzungszwecke. Das ist sexueller Missbrauch, wenn man es mal genau betrachtet.
Gaaah! Eben war es mucksmäuschenstill. Alle starrten mich an. Herr Raabe zog die Augenbrauen hoch. Schock! Ich war dran!!!
Und dann:
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