Wen liebst du wirklich?
sie die Versuchung so groß gewesen, alle Regeln des Anstands in den Wind zu schlagen und der körperlichen Versuchung nachzugeben.
Glücklicherweise konnte Cassian nicht ahnen, was sie fühlte. Sie errötete beschämt, und ein entsetzlicher Gedanke kam ihr. Vielleicht war sie ihrem Wesen nach ein Flittchen, so wie ihre Mutter eines gewesen war … Nein! Unglücklich schlug sie sich die Hand vor den Mund.
"Laura", flüsterte Cassian und zog sie näher zu sich heran.
"Lass mich los!" Sie entzog sich seinen Händen und wich zurück. "Ich will nicht, dass du mich anfasst! Und eines sollte dir klar sein: Wenn du mich gewaltsam vor die Tür setzt, komme ich durch die Hintertür wieder herein!"
Seine dunklen Augen funkelten belustigt. "Ich werde sie abschließen."
"Dann schlage ich ein Fenster ein!" entgegnete sie ziemlich heftig.
"Und dein Sohn soll sich auf dieselbe Weise Einlass verschaffen?"
Laura presste die Lippen zusammen. Sie hatte letztendlich keine Wahl, das wussten sie beide. Aber das machte sie nur noch wütender. "Du willst also wirklich eine allein erziehende Mutter mit Kind vor die Tür setzen, die beide in diesem Haus geboren worden sind? Was glaubst du, was die Leute im Dorf von dir halten werden?"
"Ich habe mich noch nie um andere Leute gekümmert", antwortete er ungerührt.
Was stimmte. Verzweifelt versuchte Laura etwas anderes: einen letzten Appell an Cassians Mitgefühl zu richten. "Adam hat Asthma. Jede Art von gefühlsmäßigem Stress kann einen Anfall auslösen. Möchtest du es dir auf dein Gewissen laden, wenn er krank wird?"
"Das wäre für uns alle schlimm", räumte Cassian ein. "Was schlägst du also vor?"
Sie sah ihn entgeistert an. "Wie bitte?"
Cassian setzte sich auf die Kante des Küchentischs und ließ ein Bein lässig schwingen. "Nun, ich habe das Haus gekauft. Ich möchte darin wohnen. Du möchtest das Gleiche. Es besteht also ein Interessenskonflikt. Wie sollen wir damit umgehen?"
Diesen plötzlichen Umschwung zu einer vernünftigen Verhandlungstaktik hatte sie nicht erwartet, deshalb musste sie erst einmal überlegen. "Sag Tony, du hättest einen Fehler gemacht", bat sie dann. "Er soll das Haus zurückkaufen."
Cassian schüttelte den Kopf. "Sinnlos. Er hat inzwischen sicher von dem Erlös seine Gläubiger bezahlt, damit sie ihn nicht noch einmal zusammenschlagen."
"Noch einmal? Was soll das heißen?" Laura wurde blass. "Was ist ihm passiert?"
"Du bist überraschend besorgt um ihn, wenn man bedenkt, wie wenig Tony an dich denkt", meinte Cassian. "Wenn ich mich recht erinnere, war er immer der Prinz. Er durfte eine Privatschule besuchen, dann die Universität, wohingegen du so früh wie möglich von der Schule gehen musstest. Und er hat sich nie um dich gekümmert."
"Es gab einen entscheidenden Unterschied zwischen Tony und mir", entgegnete sie scharf.
"Allerdings. Er war ein selbstsüchtiger Trottel, und du warst der Fußabstreifer für alle."
"Ich … ich war …" Ja, sie war der Fußabstreifer gewesen. Aber Cassian musste es nicht auch noch sagen! "Mich verband mit keinem hier im Haus eine Blutsverwandtschaft, das weißt du genau. Es ist also kaum ein Wunder, dass Tony alle Privilegien genießen durfte. Ich durfte froh sein …"
"Froh?" Cassian sprang wütend auf die Füße.
"Ja, sie haben mich aufgezogen! Sie haben mir Essen und Kleidung gegeben …"
"Sie haben dich doch nur unterdrückt! Und du bist ihnen auch noch dankbar! Laura, sie haben dich für etwas bestraft, was deine Mutter dem ach-so-wichtigen George Morris, Anwalt dieses Ortes, angetan hat. Sie haben dich zu einer grauen, geduckten Maus dressiert, die Angst hat, den Mund aufzumachen."
"Du hast kein Recht, meine Familie zu kritisieren!" fuhr sie ihn heftig an. "Es geht dich nichts an, wie wir gelebt haben. Und es ist mir egal, was du von mir denkst …" Sie verstummte, weil es ihr nicht egal war. Es bedrückte sie, dass er sie für einen Waschlappen hielt. Eine graue, geduckte Maus. Was für eine entsetzliche Charakterisierung! War sie wirklich so schlimm?
Benommen überlegte sie, warum Cassian überhaupt so wütend war und warum sie in seiner Gegenwart jegliche Kontrolle über ihre Gefühle zu verlieren schien. Er entzog ihr den Boden unter den Füßen … Vielleicht sollte sie sich einfach direkt an Tony wenden … Tony! Laura sank auf einen Küchenstuhl. "Was ist nun mit Tony?"
Cassian schüttelte den Kopf. Sie rechtfertigte immer noch, was man ihr als Kind angetan hatte! Aber ihr Zorn ließ
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