Wende
und Syracus, die Griechen gegründet hatten.) Der Grammatiker Tyrannion soll eine Bibliothek von dreißigtausend Titeln besessen haben; Serenus Sammonicus, ein Arzt, der beim Vertreiben von Krankheiten als Experte der magischen Formel »Abrakadabra« galt, hatte über sechzigtausend zusammengetragen. Rom fieberte nach Büchern, wie die Griechen auch.
Lukrez lebte also in einer Kultur privater Büchersammler, und in der Gesellschaft, in der er sein Gedicht veröffentlichte, bestand die Bereitschaft, den Kreis der Lesenden zu vergrößern. Um 40 v.u.Z., ein Jahrzehnt
nach Lukrez’ Tod, hat Asinius Pollio, ein Freund des Dichters Vergil, die erste öffentliche Bibliothek Roms gegründet. 16 Die Idee scheint auf Julius Caesar zurückzugehen, der die öffentlichen Bibliotheken bewunderte, die er in Griechenland, Kleinasien und Ägypten gesehen hatte, und er war entschlossen, auch dem römischen Volk eine solche Institution zu stiften, wurde aber, bevor er seinen Plan ausführen konnte, ermordet. So war es an Pollio, der sich mit Caesar gegen Pompeius, später mit Marcus Antonius gegen Brutus verbündet hatte, Caesars Absicht zu verwirklichen. Pollio war ein geschickter Heerführer, klug (oder extrem glücklich) in der Wahl seiner Bundesgenossen, aber auch ein Mann mit weit gespannten literarischen Interessen. Seine Schriften sind, abgesehen von wenigen Fragmenten aus seinen Reden, alle verloren, dabei hatte er sogar Tragödien – sie seien, notierte Vergil, denen des Sophokles ebenbürtig –, Geschichtswerke und Literaturkritiken verfasst, und er war einer der ersten römischen Autoren, die ihre Werke im Kreis von Freunden laut vorlasen.
Die von Pollio gegründete Bibliothek wurde auf dem Aventin errichtet, der Bau, wie in Rom üblich, mit der Beute bezahlt, die man eroberten Völkern geraubt hatte – in diesem Fall einem Volk an der Adriaküste, das den Fehler gemacht hatte, Brutus gegen Antonius zu unterstützen. Kurz danach gründete Kaiser Augustus zwei weitere öffentliche Bibliotheken, viele spätere Kaiser taten es ihm nach. (Im vierten Jahrhundert gab es in Rom achtundzwanzig öffentliche Bibliotheken.) 17 Alle Bauten sind zerstört worden, doch ihr Grundriss folgte offensichtlich einem einheitlichen Muster, das auch uns vertraut gewesen wäre. Es gab einen großen Lesesaal, an den kleinere Räume angrenzten. Dort, in nummerierten Regalen, befanden sich die Sammlungen. Der Lesesaal, entweder rechteckig oder halbkreisförmig angelegt, erhielt sein Licht manchmal von oben, durch eine kreisförmige Laterne im Dach. Den Schmuck bildeten Büsten oder lebensgroße Statuen berühmter Schriftsteller: Homer, Platon, Aristoteles, Epikur und andere. Die Figuren dienten, damals wie heute, der ehrenden Erinnerung – eine Geste gegenüber einem Kanon von Autoren, die jeder kultivierte Mensch kennen sollte. In Rom jedoch hatten sie möglicherweise noch eine zusätzliche Bedeutung, ähnlich den Masken der Vorfahren, die Römer traditionell in ihren Häusern aufbewahrten und zu Gedenkfeiern mit Gewändern schmückten: Auch hier ging es um Zugang
und Nähe zu den Toten, symbolisch standen die Bildnisse für die Geister, die sich beim Lesen ihrer Bücher heraufbeschwören ließen.
Viele andere Städte der antiken Welt begannen mit öffentlichen Sammlungen zu prunken, bezahlt mit Steuereinnahmen oder mit Schenkungen reicher, ihrer Stadt verbundener Stifter. 18 Griechische Bibliotheken waren karg eingerichtet, doch die Römer entwarfen für ihre Bibliotheken in allen Territorien des Imperiums bequeme Stühle und Tische, an denen die Lesenden saßen und mit der rechten Hand die Papyri langsam ab-, mit der linken die gelesenen Spalten wieder aufrollten. 19 Der große Baumeister Vitruv – auch einer der antiken Schriftsteller, deren Texte Poggio wiederentdeckte – riet, Bibliotheken nach Osten auszurichten, um das Morgenlicht einzufangen und das Eindringen von Feuchtigkeit zu verringern, die den Büchern schaden könnte. Grabungen in Pompeji und auch anderswo haben die Ehrentafeln für die Stifter ans Licht befördert, dazu Statuen, Schreibtische, Regale für die Papyrusrollen, nummerierte Regale, in denen die gebundenen Pergamentbände oder Kodices aufbewahrt wurden, die nach und nach die Rollen ersetzten; selbst Grafitti an den Wänden wurden freigelegt. Dass die Grundrisse und Einrichtungen denen unserer Bibliotheken ähneln, ist kein Zufall: Unsere Auffassung, dass eine Bibliothek ein öffentliches Gut sei, und auch
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