Wende
die Vorstellung davon, wie ein solcher Ort einzurichten sei, entspringen Vorbildern, die vor zweitausend Jahren in Rom entstanden sind.
Überall in der riesigen römischen Welt, ob an den Ufern der Rhône in Gallien oder nahe Hain und Tempel der Daphnis in der Provinz Syrien, auf der Insel Kos bei Rhodos oder in Dyrrachion im heutigen Albanien, gab es in den Häusern gebildeter Männer und Frauen Räume, die dem stillen Lesen gewidmet waren. 20 Papyrusrollen wurden sorgfältig in Katalogen erfasst und mit einem heraushängenden Pergamentstreifen versehen, griechisch sillybos genannt, der Auskunft über das Werk gab, die Rollen dann dicht gepackt in den Regalen gestapelt, manchmal auch stehend in Lederbehältern aufbewahrt. Selbst in den durchdacht angelegten Thermen, die die Römer so liebten, gab es Leseräume, auch sie mit plastischen Bildnissen griechischer und römischer Schriftsteller dekoriert und sehr genau auf ihren Zweck abgestimmt: Gebildete Römer sollten dort Körper und Geist gleichermaßen pflegen können. Aus dem ersten Jahrhundert
u.Z. gibt es signifikante Hinweise darauf, dass so etwas wie eine »literarische Kultur« im Entstehen war. Eines Tages, während der Spiele im Kolosseum, kam der Historiker Tacitus mit einem völlig Fremden ins Gespräch, bald ging es um Literatur, und wie sich herausstellte, hatte der Fremde Werke des Tacitus gelesen. 21 Der Bann war gebrochen, Gespräche über Kultur und Bildung nicht länger auf den engen Kreis von Freunden und Bekannten beschränkt. Tacitus traf sein »Publikum« in Gestalt eines Mannes, der sein Buch an einem Stand im Forum gekauft oder in einer Bibliothek gelesen hatte. Die Gewohnheit des Lesens verbreitete sich und war über Generationen hinweg im Alltagsleben der römischen Elite verwurzelt; dies erklärt, warum sich in einem dem Vergnügen gewidmeten Prachtbau wie der Villa dei Papiri auch eine wohlsortierte Bibliothek befand.
In den 1980er Jahren nahmen moderne Archäologen die Arbeit an der verschütteten Villa wieder auf, sie hofften, aus Entwurf und Anlage des Bauwerks besser verstehen zu können, wie man in solchen Villen lebte. Nachgeahmt wurde diese Villa übrigens in der Architektur des Getty Museums in Malibu, Kalifornien, das heute einige der Statuen und andere Schätze aus Herculaneum beherbergt. In ihrer großen Mehrzahl aber befinden sich die Meisterwerke aus Marmor oder Bronze heute im Museo Archeologico Nazionale in Neapel – Bildnisse von Göttern und Göttinnen, Porträtbüsten von Philosophen, Rednern, Dichtern und Dramatikern; ein anmutiger junger Athlet; ein wilder Eber im Sprung; ein trunkener Satyr; eine überraschend obszöne Darstellung von Pan und einer Ziege in flagrante delicto. Die erneuten Ausgrabungen kamen nur langsam in Gang: In der fruchtbaren Vulkanerde, die die Stätte bedeckt, wurden inzwischen Nelken gezogen, und die Eigentümer waren verständlicherweise nicht bereit, den Ausgräbern zu erlauben, ihre Geschäfte zu stören. Erst nach längeren Verhandlungen wurde den Forschern gestattet, in die Schächte hinabzusteigen und sich der Villa in kleinen, gondelähnlichen Fahrzeugen zu nähern, die sich sicher durch die Gänge bewegen konnten, die einst durch die Ruinen getrieben worden waren. Trotz solch gespenstischer Bedingungen gelang es den Forschern nun, den Grundriss der Villa genauer zu kartographieren als ihre Vorgänger, die Ausdehnung von Atrium, quadratischer
und rechteckiger Peristyle und anderer Gebäudeteile präzis zu erfassen und dabei auch die Lage solcher Bauteile wie der großen Mosaikfußböden und der unüblichen Doppelsäulen festzulegen. Relikte von Weintrieben und -blättern ermöglichten ihnen, die Anlage des Gartens zu rekonstruieren, in dem der gebildete Besitzer der Villa zweitausend Jahre zuvor seine Freunde um sich versammelt hatte.
Aus einer so großen zeitlichen Distanz lässt sich natürlich unmöglich genau herausfinden, worüber sich die Besucher während langer sonnendurchglänzter Nachmittage im Schatten der Kolonnaden unterhalten haben, die den Garten in Herculaneum umgaben. Doch fand sich in den 1980er Jahren ein weiterer, verblüffender Hinweis, diesmal über der Erde. Erneut widmeten sich Geschichtsforscher den geschwärzten Papyrusrollen, die von den Schatzjägern des 18. Jahrhunderts entdeckt worden waren. Zu Klumpen verbacken, hatten die Rollen den damaligen Versuchen, sie zu öffnen, widerstanden und lagen seit zwei Jahrhunderten in der Nationalbibliothek in
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